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Buddeln in der Musikgeschichte. Die zweite „Fuck Mary Kill“-Produktion präsentiert vergessene Lieder von Komponistinnen.

© Jens Wazel

Teresa Reiber und das „Fuck Marry Kill“-Team: Lieder vergessener Komponistinnen

Schätze heben. In der Musiktheaterproduktion „Warten auf Gertrud oder das Treffen der 100 Wunderkinder“ graben Regisseurin Teresa Reiber und ihr Ensemble die ignorierten Werken von Frauen aus.

Sie gehen ins Archiv. Metaphorisch – aber auch ganz tatsächlich: Teresa Reiber und ihr Ensemble bauen im ersten Teil des Liederabends „Fuck Marry Kill #2: Warten auf Gertrud oder das Treffen der 100 Wunderkinder“ ein Archiv nach. In Overalls gehen sie auf die Suche nach den weiblichen „Wunderkindern“ der Musikgeschichte, zu Lebzeiten bejubelt, und dann, wie es oft so geht, wieder ignoriert.

Über das Sujet des Lieds nähern sie sich diesen Frauen, aber vor allem auch den Themen, die sie selbst heute umtreiben. „Wir haben uns damit beschäftigt, wie man diese Themen dann mit dem klassischen Repertoire zusammenkriegt. Gibt es da wirklich eine Lücke – oder vielleicht doch nicht?“, erzählt Reiber.

Zusammen mit den vier Sängerinnen Nadine Benjamin, Amber Fasquelle, Milena Knauss und Simone Riksman, der Schauspielerin Mareike Hein und der Pianistin Lana Bode entwickelte das Team einen Liederabend, der in zwei Teilen – auf das Archiv, bei dem sie ihre Suche nach den „Wunderkindern“ szenisch-metaphorisch nachstellen, folgt eine Art Konferenzsituation – nach den Verbindungen zwischen den Komponist*innen, dem Werk und den Herausforderungen von Frauen in der Gegenwart sucht.

Mädchenchor der Singakademie Berlin

Unterstützt werden sie dabei vom Mädchenchor der Singakademie Berlin, gemeinsam rahmen sie die Stücke szenisch und untersuchen, was die Lieder vielleicht für andere, bislang ungehörte Geschichten erzählen. Wie verändern sich Lieder, wenn die Komponistinnen mit Care-Arbeit beschäftigt sind? Wenn sie von finanzieller Unsicherheit betroffen sind? Wie wirken Lieder, wenn es gar keine Konzertsituationen gibt oder geben kann?

Es ist das zweite Mal, dass Teresa Reiber sich daran macht, Klassik- und Opernwelt neu zu denken. Vor zwei Jahren schon brachte sie die erste Ausgabe des „Fuck Marry Kill“-Opernzyklus, „Die Krone der Schöpfung“ auf die Bühne, oder eher gesagt: in den Wasserspeicher im Prenzlauer Berg. Damals ging es noch stark um eine Auseinandersetzung mit dem klassischen Opernkanon und den Frauenrollen darin, als Geliebte, Frau oder Opfer, daher auch der Name der Reihe.

Über die Dekonstruktion suchte sie damals nach einem Weg raus aus den Klischees und Stereotypen. „Für den zweiten Teil habe ich gemerkt: immer nur Dekonstruieren ist auch langweilig“, sagt Reiber. Ich muss mich nicht zum zehnten Mal an Wagner abarbeiten.“

Sie wurden ins Häusliche verdammt

Also wendete sie sich dem Liederschatz von Komponistinnen zu. „Das ist etwas, was stark mit der weiblichen Sphäre verbunden ist“, erklärt sie. Auch Wunderkinder wurden irgendwann ins Häusliche verdammt, wo sie dann Lieder gespielt und auch komponiert haben. „Lieder sind ja auch Miniaturen, in denen eine komplette Geschichte erzählt wird“, meint Reiber. Also lag der Gedanke nahe, nicht nur in den Liedern Geschichten zu erzählen, sondern auch über sie und mit ihnen.

Denn allein, sie zu finden war schon eine Herausforderung: „Die Recherche ist so eine Sisyphusarbeit“, erinnert sich die Regisseurin. Viele Lieder sind nicht verlegt, es gibt manchmal auch nur einen alten Videomitschnitt von einer Performance im Internet, bei der nicht klar wird, ob nun die Qualität der Aufnahme mangelhaft ist oder das Lied selbst einfach nicht sehr gut. „Es liegt einfach total viel brach“, fasst Reiber die Suche zusammen, „die Verlage haben sich lange nicht für das Thema interessiert.“

Von Hildegard von Bingen bis zur Gegenwart

Das ändert sich jetzt, aber lange Jahre stand jede Komponistin für sich allein, konnte zu Lebzeiten von der Musik leben und wurde danach wieder vom Musikkanon ignoriert. Mit dem eigentlich absurden Titel „100 Wunderkinder“ bringen Reiber und ihr Team diese Frauen nun über Zeit- und Raumgrenzen zusammen.

Rasant geht es durch die weibliche Musikgeschichte, von Hildegard von Bingen bis hin zu ganz aktuellen Stimmen junger Komponistinnen der Gegenwart, insbesondere aus den USA. „Dort sind die Komponistinnen so viel freier und haben ganz andere Themen“, meint Reiber, „es gibt ganze Liederzyklen, die sich mit Mutterschaft auseinandersetzen, aber eben auf eine moderne Weise. Und es ist immer noch in unserem Verständnis ein Kunstlied.“

Die Themen, die auf den Tisch kommen, sind alles andere als abstrakt, sondern bleiben nah an der Lebensrealität aller Beteiligten. „Wenn es etwa um die Diskriminierung der Komponistinnen geht, können die Sängerinnen ganz ähnliche Geschichten erzählen“, sagt Reiber.

Mit den szenischen Elementen sollen die Lieder dann auch manchmal ganz für sich wirken, auch wenn Übertitelung auf Deutsch und Englisch angeboten wird. „Ich bin immer daran interessiert, dass es nicht nur über die Sprache geht, sondern dass man es auch aus dem Setting und der Performance heraus versteht. Und man es vielleicht auch manchmal einfach nur auf sich wirken lässt.“

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