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Letzte Bilder. Andres Serrano hat eine Selbstmörderin fotografiert, „Rat Pison Suicide II“, für seine Serie „The Morgue“.

© Andres Serrano 2018, C/O Berlin aus der Ausstellung

Herausfordernde Fotoausstellungen: Theater der Liebe und Grausamkeit

„Araki. Impossible Love“ und „Das letzte Bild. Fotografie und Tod“ führen bei C/O Berlin Eros und Thanatos, Sex und Schrecken spektakulär vor Augen.

Die Kuratoren Felix Hoffmann und Friedrich Tietjen beginnen ihre Betrachtung zum Thema „Das letzte Bild“: „Neben der Geburt ist der Tod die einzige Erfahrung, der kein Mensch entkommt und von der doch niemand erzählen kann. Dieses Wissen und die Ungewissheit sind schwer zu ertragen.“

Das sind zwei starke Sätze. Sie sind vorgedacht in Religion, Philosophie, Literatur. Man könnte Samuel Beckett hinzu zitieren aus „Warten auf Godot“: „Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick, und dann von Neuem die Nacht.“ Im Bild vom Gebären „rittlings über dem Grab“ schwingt auch das Motiv des Erotischen, des geöffneten und wieder vergehenden Körpers mit. Die Paarung Eros und Thanatos, also Liebe, Sex und Tod, durchtanzt und durchzieht so die gesamte Kunst- und Kulturgeschichte. Daran knüpfen die beiden neuen Großausstellungen im Berliner Fotoforum C/O Berlin in kühner Weise an.

Kühn und manchmal am Rande des Erträglichen oder allemal Provozierenden ist dieses Doppelprojekt mit insgesamt über zweitausend Exponaten im ehemaligen Amerika-Haus beim Bahnhof Zoo eine Herausforderung. Im Untergeschoss „Das letzte Bild. Fotografie und Tod“ – darauf in der oberen Etage „Araki. Impossible Love“. Noch nie, sagen die Ausstellungsmacher, sei das fotografierte Ende von Menschen in fast allen vorstellbaren Aspekten derart umfänglich zu sehen gewesen. Und dazu, direkt darüber Araki.

Der Altmeister der japanischen erotischen Fotografie schickt 1100 Polaroids nach Berlin

Ausgerechnet Araki! Das ist der erste Gedanke. Weil Nobuyoshi Araki, der 1940 in Tokio geborene Altmeister der japanischen erotischen Fotografie, immer vom Ruhm und zugleich Odium des Hochfrivolen und Halbpornografischen umgeben gilt und sich selbst gerne als Kobold mit der Kamera geriert. Mit seinen Bildern von meist jungen nackten Frauen mit geöffneten Schenkeln und oft spielerisch verpackt und verstrickt in Seilen hat er es, lange vor #MeToo, zu einer Art Popstar der westlichen und fernöstlichen Welt gebracht. In einem amerikanischen Filminterview übersetzt er ein Wortspiel mit seinem japanischen Namen als „Photo devil“.

Die große Überraschung bei C/O Berlin ist nun, dass sich Araki hier gar nicht teuflisch und nur für prüde Geister ein bisschen obszön, viel eher jedoch als heiterer Melancholiker präsentiert. Für diese Retrospektive ist der Achtundsiebzigjährige zwar nicht selbst nach Berlin gekommen (ihn vertrat bei der Eröffnung Freitagabend seine Assistentin), aber er hat rund 1100 Polaroids und etliche großflächige neuere Arbeiten eigens für C/O aus Tokio geschickt. Auch hier viel bisher noch nie Gezeigtes, zweifellos ein Ereignis. Und weil der erste Teil der mit Bildern von 1965 beginnenden Schau vornehmlich Arakis 1990 an Krebs gestorbenen Ehefrau Yoko gewidmet ist, spielt bei den Zyklen „Theater of Love“, „Memoirs of Yoko“, „Sentimental Journey“ und „Days we were happy“ auch das Todesmotiv im Hintergrund mit.

Araki selbst will das Leben feiern. Er greift jeden Tag sofort nach dem Aufstehen zur Kamera, denn Fotografieren sei nicht sein Leben, sondern für ihn: das Leben. „Foto-Ich“ bedeutet nicht Arakis Alter Ego. Sondern: das ganze Ego.

Sein erstes Digitalfoto will Araki machen, wenn er im Sarg liegt

Deshalb kann man all seine Bilder als fotografisches Tagebuch lesen. Bald, nachdem er in Tokio Großstadtkinder, Straßenszenen oder zwischenzeitlich Werbung fotografiert hatte, richtete Araki seinen Kamerablick, ohne Studio und Stativ, auf sein persönliches Umfeld. Die Hochzeitsreise wird so zur „Sentimental Journey“, mit Yoko und seiner Leica, schwarz-weiß: Schnappschüsse auf der Straße, im Café, im Bett. Immer intim, den Menschen nah, subjektiv, spontan. Das erinnert im Stil an Nan Goldin, Larry Clark oder, wie es in der Ausstellung und im Katalog heißt, an den Ukrainer Boris Mikhailov. Man könnte noch hinzufügen: Wolfgang Tillmanns. Wobei Araki allerdings auf der analogen Fotografie beharrt, bis hin zu seinen nunmehr farbigen Polaroids. Analog heißt hier Leben, sein erstes Digitalfoto will er von sich machen, „wenn ich im Sarg liege“. Das digitale Bild wäre dann sein letztes.

Verzichtet hat man bei C/O auf Arakis Aufnahmen von nackten Frauen in Schnüren und Fesseln. Anspielungen auf ähnliche Motive bei Hans Bellmer, der zudem noch mit grotesk und surreal verrenkten Mädchen-Puppen arbeitete. Selbst dort hätte man im Unterschied zu wirklichen Sadomaso-Pornos bei Araki immerhin das Spielerische, Zitierte, Parodierte erkennen können.

Denn Araki beruft sich auf die spezifisch japanische Tradition des Porno-Grafischen bis hin zum Porno-Comic. Sie führt mit extrem drastischen, manchmal brutalen Darstellungen aufgerissener Schöße und waffenähnlich gereckter Schwänze von den klassischen Holzschnittmeistern wie Hokusai und Hiroshige fast umstandslos in die beliebte Welt der Porno-Mangas. Zudem oszilliert die japanische Alltagskultur zwischen traditioneller Höflichkeit, Formbewusstsein und Diskretion – und auf der anderen Seite der expressiven Schaustellung des Sexuellen. Japans Kino, nicht nur Nagisa Oshimas legendärer Film „Im Reich der Sinne“, zeugt davon, und Alejandro González Iñárritus Meisterwerk „Babel“ nimmt das auf in einer Tokio-Episode mit den Schamlosigkeiten alltäglicher (?) Schulmädchen.

Nobuyoshi Arakis Collage „Untitled“ von 1969 aus der Serie „Tokyo“.

© Nobuyoshi Araki, C/O Berlin aus der Ausstellung

Bei Araki zeigt seine Frau Yoko, zeigen andere junge Frauen, die sich mal absichtsvoll, mal wie unbewusst zwischen die Schenkel schauen lassen, auch eine an kindliche Doktorspiele mehr als an wirklichen Sex erinnernde Freude. Oder Gelassenheit. Oder leise Melancholie. Nicht Geilheit. Araki schafft es, dass das Spekulative so unschuldig erscheint.

Natürlich sind da auch ein paar Kitschbilder dabei. Wenn Frauen eine Banane oder einen Schokoriegel lutschen. Ganz pseudolasziv. Oder wenn die bunten „Flower Dolls“ von 2018 auf vergrößerten Prints von Polaroids mit ihren Puppen und Gummimonstern spielen, wenn rote Blüten, Früchte, Sushis als erotische Symbole fungieren. Es sind das die Späße eines älteren Künstlermannes.

Mit dem Thema Eros und Tod aber verbinden sich ein paar Meisterwerke. Schon bei den „Memoirs of Yoko“ von 1970 denkt man beim Foto von dunklen Frauenlocken auf weißem Hintergrund an eine persönliche Reliquie. Erst auf den näheren Blick wird die vermeintliche Draufsicht (ein abgeschnittener Haarschopf auf einer weißen Unterlage) zum wieder lebenden Porträt. Im Weiß treten die Umrisse einer hellen Haut hervor – es ist das Bild einer Frau von hinten vor einer weißen Wand, und das Haar gehört zu einem Kopf, zu einem Nacken und dem Ansatz eines weißen Rückens.

Ein anderes Mal hat Araki von nah eine tote schwarzlockige Frau (nicht Yoko) in einem blumengeschmückten Sarg fotografiert. Ihr Gesicht liegt frei, der Körper ist von Blumen bedeckt, von allen Seiten greifen Hände und Arme ins Bild, um die Tote zum letzten Mal zu berühren.

Politisches und Privates – oder selbst nur schamlose Obszönität?

Das Foto könnte als Sinnbild – von Andacht oder Gier – auch im Erdgeschoss unter den Totenbildern hängen. Diese Ausstellung beginnt mit den Totenmasken von Berühmten wie Hegel, Schiller oder der preußischen Königin Luise in Vitrinen. Anrührend sind danach die Porträts von buchstäblich Todgeweihten, die das Fotografenpaar Walter Schels und Beate Lakotta in Hamburger Hospizen und Kliniken mit deren Einverständnis gemacht hat. Nadars Daguerreotypie von Victor Hugo auf dem Totenbett vom Mai 1855 ist zu sehen. Und viele, viele weitere Bilder: von Hingerichteten, Verunglückten, Ermordeten (Weegees Polizeireporterfotos aus New York), vom Attentat auf Kennedy, von schrecklich gelynchten Schwarzen und feixendem weißen Mob aus den US-Südstaaten in den 1930er Jahren. Aus heutigen Pathologien: Mord und Morgue.

Politisches und Privates. Zum Beispiel Brigitte Mayers Polaroids ihres krebskranken Mannes, des Autors Heiner Müller, 1995 kurz vor seinem Tod. Aber darf man, soll man aus Gerhard Richters riesiger Archiv-Sammlung „Atlas“ einfach ein paar Seiten raustrennen mit den furchtbarsten Holocaust-Bildern, mit den Leichenbergen, neben aufgefundenen Pornomagazinbildern? Als ginge es um einen unmittelbaren, unvermittelten Zusammenhang von Mord und Lust? Oder Thomas Hirschhorns „Ur-Collage“, bei der das Model Claudia Schiffer neben einen blutig Enthaupteten, Geschundenen montiert wird. Eine Spekulation, die voyeuristisch die Voyeure „treffen“ will. Das aber ist weder Kunst noch Aufklärung, nur selbst eine schamlose Obszönität.

Wir haben Stefan Erfurt, den klugen unermüdlichen Kopf von C/O Berlin zu dem im doppelten Sinn auch Frag-Würdigen gefragt. Erfurt sagt: „Fragen sind manchmal wichtiger als Antworten. Wir sind hier ein Ort für Freiheit, Debatte und Widersprüche. Dem wollen wir Raum geben, während sich sonst so viele Räume verengen.“

Beide Ausstellungen bis zum 3.3.2019, täglich 11 bis 20 Uhr. Umfängliche Kataloge bei Spector Books: Araki „Impossible Love“ in der Ausstellung 49, 90 €, „Das letzte Bild“ 54 € (im Buchhandel 58 € und 62 €).

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