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Energisch. Leonie Klein, Teilnehmerin der Schlagzeug-Klasse, spielt Helmut Lachenmanns „Intérieur I“ von 1966.

©  IMD / danielpufe.com

70 Jahre Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik: Stockhausen, Nono und die anderen

Unsinnlich und elitär: Gegen dieses Image kämpft die Neue Musik bis heute. Junge Tonkünstler nutzen die legendären Darmstädter Ferienkurse - und verändern sie zur Debattenplattform.

1946. Der Zweite Weltkrieg war kaum vorbei. Auch das südhessische Darmstadt, das am 11. September 1944 seine fatale Brandnacht erlebt hatte, lag in Schutt und Asche. In diese desolate Situation hinein gründete Wolfgang Steinecke, damals der städtische Kulturreferent, die Ferienkurse für Neue Musik. Hier sollte die Musikwelt die von den Nationalsozialisten erstickte Musikentwicklung dort aufgreifen können, wo sie abgerissen war. Nur: Wie aus dem Grauen der unmittelbaren Vergangenheit Konsequenzen ziehen – und mit welchen Mitteln? Man konnte sich doch nicht in derselben Tonsprache ausdrücken, die von einer Gesellschaft zelebriert und usurpiert worden war, die die Welt in diesen Abgrund geschickt hatte. Jede Verbindung dazu musste durchtrennt werden, auch hier brauchte es eine Stunde null.

Jahr für Jahr rangen nun in den Darmstädter Nachkriegssommern Komponisten, Instrumentalisten, Theoretiker und Philosophen – allen voran Theodor W. Adorno – um eine Antwort auf diese Aporie. Einige sahen sie in der seriellen Kompositionsmethode – Anknüpfungspunkt war das von Arnold Schönberg entwickelte Zwölftonsystem, das von faschistischer Seite als entartet deklariert und verboten worden war. Die Töne waren hier aus der Hierarchie der Funktionsharmonik entlassen.

Tabula rasa mit der Vergangenheit

Aber Musik bestand nicht nur aus Tonhöhen. Nichts hinderte eine atonale Melodie daran, sich nach herkömmlichen Gestaltungsregeln zu entfalten. Waren Parameter wie Dauer, Dynamik und Klangfarbe eines Tons nicht genauso potenzielle Träger einer alten Musiksprache? Erst wenn der Musik jede subjektive Ausdrucksmöglichkeit genommen war, konnte man wirklich behaupten, Tabula rasa mit der Vergangenheit gemacht zu haben.

Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono wurden in den Fünfzigerjahren bekannt als Pioniere dieser Methode der letzten Konsequenz. Von ihnen ist die Rede, wenn der umstrittene Begriff „Darmstädter Schule“ fällt – als hätten bei den Ferienkursen nicht unzählige andere Komponisten mit ebenso ikonoklastischen Ideen am Fundament eines modernen Musikdenkens mitgebaut. Immerhin sägte auch John Cage, der das Geräusch emanzipierte und die Zufallsoperation einführte, bei seinem Darmstadt-Besuch 1958 effektiv am Fundament des traditionellen Musikbegriffs.

Dass sich aus derart dominanten Strömungen Dogmen – und damit Humus für neue Hierarchiestrukturen – bilden würden, erscheint rückblickend nur logisch. Der Schleier, der sich so auf die Musik der Nachkriegsavantgarde legte, tat auch ihrer Außenwirkung keinen Gefallen. Das Vorurteil, Neue Musik sei akademisch, unsinnlich, ausdrucksleer und elitär, war noch so lange über sein Verfallsdatum hinaus lebendig, dass selbst junge Komponisten heute diese Last noch abtragen.

450 Teilnehmer aus aller Welt

Siebzig Jahre sind seit der Gründung vergangen, und die Ferienkurs-Tradition ist in diesem Jahr mit 450 Teilnehmern aus aller Welt lebendiger denn je. Längst werden hier keine allgemeingültigen Regelwerke mehr postuliert. Der Kompositionsbegriff, ja, der ganze Neue-Musik-Begriff streckt sich immer weiter nach anderen Stilrichtungen und Kunstgattungen aus. Unter dem Motto „Music in the expanded field“ stellt Thomas Schäfer, Leiter der Ferienkurse, diese Tendenz zur Raumerweiterung in den Fokus. Die Idee an sich ist nicht neu. Neu ist aber die Dringlichkeit, sich damit auf die Realität zu beziehen. Der junge belgische Komponist Stefan Prins macht es am Klavier vor: In seinem Zyklus „Piano Hero“ erweitert er das Instrument multimedial so weit, dass es zusehends zum Spiegel der Verunsicherung unserer medial kontrollierten Gesellschaft wird.

Und das herkömmliche Ensemblekonzert? Es gibt es noch, auch in Darmstadt. Parallel aber werden hier Konzepte ausprobiert, die diesen Rahmen nach allen Seiten sprengen. Bereits der Eröffnungsabend verwandelt den spektralen Klassiker „Vortex Temporum“ von Gérard Grisey durch eine choreografische Übersetzung von Anne Teresa de Keersmaeker in eine körperliche und räumliche Erfahrung. In Eva Reiters Komposition „The Lichtenberg Figures“ wird das klassische Konzertformat von einer düsteren Rockperformance mit Lichtershow und Nebelschwaden geschluckt, und die Internationale Ensemble Modern Akademie macht sich an Beat Furrers Musik zu schaffen: In Uli Fusseneggers „Scan-Projekt“ schälen sich zwei Furrer-Werke nahtlos aus Klangstrecken heraus, die aus zersetzten Elementen dieser zwei Kompositionen improvisatorisch zusammenwachsen.

„Darmstadt war keine Schule. Darmstadt war einfach viel Wein“, sagte der altersweise Pierre Boulez, auf die Fünfzigerjahre zurückblickend. Jenseits des Klischees vom saufenden Künstler machte er damit klar, dass Darmstadt vor allem Debattenplattform war, auf der existenzielle Fragen in relevantes künstlerisches Schaffen übersetzt sein wollten.

Musik gehört in den sozialpolitischen Kontext

Das ist 2016 nicht anders. Das gut besuchte Theorie- und Diskursprogramm zeugt ebenfalls von dem Bedürfnis, Musik im aktuellen sozialpolitischen Kontext zu verstehen. Fragen etwa nach dem kritischen Potenzial Neuer Musik lösen im Workshop des Zürcher Kulturphilosophen und Komponisten Patrick Frank reichlich Kontroversen aus. In gewissen Punkten ist man sich jedoch einig: Man will sich weder mit anything goes zufriedengeben noch auf einer Insel der Glückseligen Utopien feiern. Der interdisziplinäre Diskurs in einem wirklichkeitsbezogenen Zusammenhang spiegelt die einzigartige Chance der Darmstädter Ferienkurse, neue musikalische Werke nicht einfach so in den Raum zu stellen, sondern Wandlungstendenzen zu erkennen und weiterzudenken.

Im Jubiläumsjahr ist der Blick auf die Vergangenheit Pflicht, weshalb auch das Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt digitalisiert wurde und bald öffentlich im Netz zugänglich sein soll. In der Ausstellung „historage“ setzen sich Künstler anhand dieses Archivs kritisch mit der Geschichte der Ferienkurse auseinander. Nicht das, was tatsächlich im Archiv liegt, ist hier Thema, sondern das, was dort kaum auftaucht: außereuropäische Kultur und Frauen.

Ein hoher Maschendrahtzaun, den Nicolàs Varchausky durch eine riesige Halle zieht, lässt an die denken, die einst ausgeschlossen wurden. Aber auch an die, die man heute ausschließt. Es ist still. Hält man ein Stethoskop an diesen Zaun, taucht man jedoch in eine eigenartige Klangmischwelt aus Darmstadt-Archivmaterial und Alltagssounds anonymer Menschen überall auf der Welt ein. Die Botschaft der klingenden Kluft ist deutlich – und erfüllt plötzlich den sonst leer wirkenden Slogan „ATTACK THE FUTURE“, den die Kursteilnehmer auf Stofftüten in der ganzen Stadt vor sich hertragen, mit greifbarem Sinn. Denn während man die Entwicklungen in der Neuen Musik nur zuzulassen und abzubilden braucht, weiß man in der Diversitätsfrage tatsächlich, wie konkret einzugreifen ist – wenn man die Zukunft denn wirklich anpacken will.

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