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Bühnenadaption. „Der Hals der Giraffe“ nach einem Roman von Judith Schalansky läuft am Deutschen Theater.

© Arno Declair

Stirbt die zeitgenössische Dramatik?: Die Grabreden auf das Theater sind falsch

Seit Jahren derselbe Refrain: Dem zeitgenössischen Theater geht es schlecht. Die Kritiker werden der Situation nicht gerecht. Ein Gastbeitrag.

Ulrich Khuon ist Intendant des Deutschen Theaters, Claus Caesar Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant.

Woran liegt es, so fragt man sich bisweilen, dass manche Theaterkritiken wie Nachrufe klingen? Wie Abgesänge mit einem seit Jahrzehnten wiederkehrenden Refrain?

Die dramatische Kunst, so raunt es, sei tot oder zumindest dem Sterben nah. Theaterstücke gäbe es fast keine mehr, stattdessen würden landauf landab Filme oder Romane adaptiert.

Theater seien zu Institutionen verkommen, die „jedes Buch greifen und auf die Bühne zerren, während es der zeitgenössischen Dramatik, so es sie noch gibt, immer schlechter geht“. So schrieb Rüdiger Schaper im Tagesspiegel aus Anlass der „Don Quijote“-Premiere am Deutschen Theater Berlin.

Die beiden Legenden, die die Grundlage solcher Grabreden bilden, halten sich hartnäckig. Trotzdem sind sie weder plausibel noch wahr.

Denn Romanadaptionen sind keine Modeerscheinung des 21. Jahrhunderts. Die erste Bühnenfassung von Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ datiert ins Jahr 1888, die erste Dramatisierung von Kafkas „Process“ besorgte Kafkas Freund und Herausgeber Max Brod.

Eugene O’Neills Vater James spielte über 40 Jahre lang den Grafen von Monte Christo, Don Quijote und Sancho Panza standen Pate für Hunderte von Theater- und Opernadaptionen.

Die zeitgenössische Dramatik liegt keineswegs in ihren letzten Zügen

Die Liste ließe sich verlängern. Von den Anfängen bis ins Heute. SchauspielerInnen, RegisseurInnen, DramatikerInnen und LibrettistInnen aller Zeiten adaptierten Geschriebenes für die Bühne, ganz ohne sich damit zu Totengräbern der dramatischen Kunst zu machen.

Dass sich im Programm des Deutschen Theater „sechs (!) Inszenierungen“ finden, die auf Romanstoffen basieren, muss deshalb niemanden beunruhigen. Romanstoffe gehören wie selbstverständlich zu den Ausdrucksformen jeder Bühnenkunst. Das Theater wird davon nicht untergehen. Das ist die erste gute Nachricht.

Die zweite gute Nachricht ist, dass die zeitgenössische Dramatik keineswegs in ihren letzten Zügen liegt. Es zählt zu den Kernaufgaben aller Theater, die Entstehung genuiner Theatertexte zu begleiten und zu fördern. Und alle Theater in Berlin und im gesamten deutschsprachigen Raum widmen sich dieser Aufgabe mit viel Liebe und Energie.

Man sollte die Situation nicht schönreden

Es trifft zu, dass neue Stücke nicht oft genug nachgespielt werden.

Es ist richtig, dass sich zeitgenössische DramatikerInnen häufig auf kleineren Bühnen wiederfinden.

Es stimmt, dass nicht sehr viele AutorInnen von ihren Honoraren leben können.

Aber es stimmt auch, dass sich mühelos Namen finden lassen, die allen Untergangsszenarien reihenweise und aufs Schönste widersprechen.

Wer diese Leute ignoriert, tut dem Theater keinen Dienst

Ein paar Beispiele, sehr subjektiv und unvollständig: Ferdinand Schmalz und Rebekka Kricheldorf, Dea Loher und Roland Schimmelpfennig, Elfriede Jelinek und Ewald Palmetshofer, René Pollesch und Thomas Melle, Moritz Rinke, Fiston Mwanza Mujila, Sibylle Berg, Wolfram Lotz, Nis-Momme Stockmann, Jakob Nolte ... Von ihnen allen gab (und gibt) es am Deutschen Theater Ur- und Erstaufführungen zu sehen. Sie alle sind mit ihren Stücken auch an anderen Theatern präsent.

Zum diesjährigen Stückewettbewerb der Autorentheatertage wurden über 170 neue Theatertexte eingereicht. 170 Autorinnen und Autoren, junge und alte, etablierte und ganz unbekannte.

Einige dieser Texte werden im Juni 2020 im Rahmen des Festivals uraufgeführt oder in Lesungen vorgestellt. Andere werden in Graz, Leipzig, Frankfurt, Wien oder Kaiserslautern zur Uraufführung kommen. Wer all diese Stimmen für null und nichtig erklärt, wird dem zeitgenössischen Theater keinen Dienst erweisen. Alle Grabreden kommen zu früh. Die zeitgenössische Dramatik lebt. Heute. Auch hier.

Ulrich Khuon, Claus Caesar

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