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Kultur: Stimme voller Narben

Marianne Faithfull im Köpenicker Rathaushof.

Vergangenes Jahr hatte sie ein großes Konzert in der Spandauer Zitadelle zum Erscheinen ihres herausragenden Albums „Horses and High Heels“ gegeben. Jetzt konnte man Marianne Faithfull noch einmal ganz nah erleben – im intimen Rahmen der Köpenicker Konzertreihe „Jazz in Town“. Der kleine Rathaushof ist ausverkauft und mit 700 Menschen gesteckt voll. Gutbürgerliche Biergartenatmosphäre: lange Tische, beladene Teller, fette Eisbeine, schwere Humpen. Ob das so richtig zu Marianne Faithfull passt? Zu dieser vielleicht letzten ganz großen, eigenwilligen Dame der Rockmusik? Ihr Leben war ein ständiges Auf und Ab: wilde Zeiten mit Mick Jagger und den Rolling Stones in den sechziger Jahren, Heroinsucht und Obdachlosigkeit auf den Straßen Sohos. Und dann 1979 die erstaunliche Rückkehr ins Musikerleben mit dem famosen Album „Broken English“. Wechselhafte Zeiten, die die außerordentliche Stimme der 65-Jährigen so eindrucksvoll verändert und geprägt haben – vom artig lieblichen Jungmädchensopran bis zum grandios schotterigen, tiefen Ausdruck ihres exzellenten Alterswerkes.

Besonders glücklich wirkt sie nicht, wie sie da auf der Köpenicker Bühne steht, im schwarzen Anzug, mit knallroten Schuhen und Lippen. Die Augen eingesunken in traurige Leere, mit einem Blick, der sich immer wieder abzuwenden scheint aus der Gegenwart in innere Unendlichkeit. Doch dann geschieht Unglaubliches. Immer wenn die körperlich angeschlagene, physisch abwesend wirkende Faithfull anfängt zu singen, ist sie voll da, mit einer Präsenz, die umhaut. Mit einer Stimme, die alle Narben dieses Lebens hörbar macht. Mit einer phantastischen Version von „Baby Let Me Follow You Down“, dem Song, den sie erst kürzlich aufgenommen hat für das Bob-Dylan-Tribute-Album „Chimes Of Freedom“. Zu Tränen rührend die Ballade „Marathon Kiss“. Die habe sie lange nicht mehr gesungen, sagt sie, geschweige denn mit der Band geprobt.

Aber gerade die Unvollkommenheit lässt das Lied so ergreifend wirken, genauso wie das hübsche Folk-Traditional „Kimbie“ vom brillanten Album „Easy Come Easy Go“ (2008). Schwer atmend muss sich Faithfull immer wieder setzen. Während der feinen Instrumentalpassagen glänzen ihre Begleiter: Martyn Barker und Rory McFarlane (Schlagzeug und Bass) und Kate St John (Orgel, Piano, Saxofon, Akkordeon), neu ist Gitarrist Neill MacColl. Bedenken, ob er das Gespann Doug Pettibone und Wayne Kramer ersetzen kann, knallt MacColl lässig weg mit knackigen Riff-Attacken und gefühlvollem Folk-Picking. „Why D’ya Do It“ rockt noch einmal zornig, bevor die grandiose Sängerin von mehreren Helfern von der Bühne geführt wird, nach 70 Minuten. Marianne Faithfull hat kürzlich bekannt, sie wolle eigentlich keine Konzerte mehr geben, brauche aber das Geld für ihre Altersversorgung. Man wünscht ihr von Herzen, dass sie es bald zusammen hat. Aber man wünscht sich auch, dass man diese Stimme noch oft zu hören bekommt. H.P. Daniels

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