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Mark Hogancamp (Steve Carell) und seine Freundin Roberta (Merritt Wever).

© Universal Pictures

Spielfilm „Willkommen in Marwen“: Käpt’n Hogie und seine Amazonen

In der Tragikomödie „Willkommen in Marwen“ erzählt Robert Zemeckis von einem traumatisierten Künstler, der sich selbst therapiert.

Robert Zemeckis, der Mann hinter „Forrest Gump“, hat wieder ein Märchen über einen kleinen Helden mit einfachem Gemüt gedreht. „Willkommen in Marwen“ ist ein Hybrid aus Animation und Realfilm. Er erzählt von Mark Hogancamp, einem Künstler und Fotografen, der nach einer lebensbedrohlichen Attacke sein Gedächtnis verliert und ausgerechnet durch die Flucht in eine Fantasiewelt zurück ins Leben findet.

Das klingt so widersprüchlich wie reizvoll für jemanden wie Zemeckis, der die Schichtung fantastischer Bildwelten zu seinem Thema gemacht hat, ob in „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, wo ein Cartoon-Hase gemeinsam mit Bob Hoskins Kneipen zerlegt, oder in der „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und ihrem Spiel mit verschiedenen Zeitebenen und Kausalitäten – und Spezialeffekten. Nur hat Zemeckis seinen Stoff diesmal aus dem wahren Leben gegriffen.

Die Geschichte basiert auf wahren Ereignissen

In einer überlangen Einstiegssequenz walzt er die Hauptmotive der Geschichte aus: Zweiter Weltkrieg, Barbiepuppen, Nazis, Stilettos und viel Geballer. Der US-Kampfpilot Hogie wird über Belgien abgeschossen. Für seine beim Absturz verbrannten Stiefel findet er im Wald schnell Ersatz, ein Paar edler Stöckelschuhe nämlich, deretwegen er, von einem NS-Trupp gestellt, als Tunte verlacht und attackiert wird. Bevor ihn die Nazis kastrieren, greifen in letzter Sekunde mehrere langbeinige Partisanen-Amazonen ein. Als sie mit Hogie seine Befreiung feiern wollen, fährt im Hintergrund die Müllabfuhr vorbei. Die Erde bebt, die Puppenwelt klappt in sich zusammen.

Klingt verwirrend? Ist es auch. „Willkommen in Marwen“ geht es nicht etwa darum, die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion nachzuziehen. Zemeckis führt vor, wie schön wild beides durcheinandergehen und dabei für ein Menschenleben Sinn machen kann, und zwar faktisch verbürgt.

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Der echte Mark Hogancamp wurde vor einer Bar in Upstate New York von fünf Männern ins Koma geprügelt, weil er seine Vorliebe für Stilettos offenbart hatte. Er überlebte nur knapp und trug bleibende Hirnschäden davon. Die posttraumatische Belastungsstörung verarbeitet er bis heute nicht in einer Therapie – die könnte er nicht bezahlen –, sondern durch seine Kreativität. „Marwen“ bezieht sich auf den Namen des Miniaturdorfs, das er in seinem Garten zusammengezimmert und mit Action-Figuren und Barbies bevölkert hat. Dort herrscht ewiger Weltkrieg. Käpt’n Hogie und seine Amazonen müssen sich in grausamen Szenen gegen ihre Feinde behaupten – eine permanente Traumakonfrontation, die Hogancamp mit dem Fotoapparat einfängt und auf Ausstellungen präsentiert. 2010 drehte Jeff Malmberg einen Dokumentarfilm über Hogancamp, auf den Zemeckis sich hauptsächlich bezieht.

Panikattacken und Kugelhagel

Erster Pluspunkt in „Marwen“: Steve Carell. Er ist mit seiner kompakten, marmornen Erscheinung und seiner leicht botoxhaften Mimik perfekt für die Doppelrolle als Mark/Hogie. Die Vergangenheit wird er nicht los. Ständig zieht Mark einen Spielzeug-Jeep hinter sich her, in dem Hogie mit Gefolgschaft sitzt. Allzeit ist er auf einen Angriff gefasst. Und in der Tat erleidet er verlässlich die nächste Panikattacke, die ein ums andere Mal als Kugelhagel inszeniert wird.

„Willkommen in Marwen“ betont, dass die Attacke auf Mark ein Hassverbrechen von Neonazis gegen eine irgendwie queere Person war, dass diese Person aber noch lange nicht schwul ist, nur weil sie gerne crossdresst. Das ist richtig. Was trotzdem etwas seltsam rüberkommt: Im Hinblick auf die Familientauglichkeit gelten splatterhafte Schlachtszenarien offenbar als weniger bedenklich als die Vorstellung gleichgeschlechtlicher Liebe.

Alles wird überdeutlich ausbuchstabiert

Zweiter Pluspunkt: Robert Zemeckis’ Filme waren immer auch technische Leistungsschauen. Manchmal so sehr, dass er schon als Gimmick-Trickser verschrien war. Seine Vorreiterrolle im Motion-Capture-Verfahren macht sich jetzt aber in der Leichtigkeit bemerkbar, mit der er zwischen der animierten Puppenwelt und Schauspielern und Realkulissen hin und her wechselt. Dabei lässt Zemeckis seine Metaphern allerdings nicht einfach für sich wirken. Alles wird überdeutlich ausbuchstabiert. Man kann das als Misstrauen gegenüber der eigenen Bildgewalt verstehen. Oder so, dass der Regisseur seinen Protagonisten und sein Publikum für Dummies hält: Kino für Begriffsstutzige. Beides spricht nicht unbedingt für den Film.

Zugleich bleibt trotz Übereindeutigkeit nebulös, wie eine bittere emotionale Enttäuschung bei Mark in null komma nichts zur Lösung seiner Probleme führt. Auch das Motiv der Neonazi-Schläger als bedrohliche Kraft, die eben nicht mehr nur im Unterbewusstsein oder im Untergrund wütet, bleibt holzschnitthaft im Gut-Böse-Schema. Dafür gönnt Robert Zemeckis sich einen Selbstzitat-Spaß: Irgendwann hängt Käpt’n Hogie kopfüber von einem fliegenden DeLorean, der Zeitmaschine aus „Zurück in die Zukunft“.

Im Kampf gegen die Nazi-Schergen zückt er seine ultimative Waffe: den Pfennigabsatzstiletto an seinem Fuß. Er rammt ihn dem Obersturmbannführer durchs Auge ins Hirn. Dasselbe macht „Willkommen in Marwen“ mit seinem Publikum. Der Film will seine humane Botschaft mit Drastik in die Köpfe des Publikums prügeln.
In acht Berliner Kinos, OV: Cineplex Neukölln Arcaden, Cinestar Sony Center, OmU: Hackesche Höfe, Kulturbrauerei

Arno Raffeiner

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