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Zeuge der Industrialisierung. 1871 malte Monet das Parlament in London, mit Dampfschiffen auf der Themse. Rechts bauen Arbeiter das Embankment.

©  The National Gallery

Sommerschau in London: Mit Monet durch Europa

Die National Gallery in London bietet in einer großen Ausstellung einen frischen Blick auf den Künstler Monet, der Fassaden wie Landschaften malte – und Natur als Traum.

Venedig ist die letzte Stadt, die er malt. Den Dogenpalast, der sich im Wasser spiegelt und selbst wie eine Luftspiegelung erscheint. San Giorgio Maggiore, die Palladio-Kirche, die im Dunst davonsegelt. Den Canal Grande ohne Schiffe. Kein einziger Mensch findet sich auf Claude Monets Venedig-Bildern, er hasst Touristen. 1912 werden die in der Lagune entstandenen Werke ausgestellt. Diese Welt ist aus leichtestem Stoff gemacht, Projektion und Wunschtraum. Venedig bietet ihm all das, was er schon immer im Auge hatte: Wasser, Licht und Gebäude, die vom Menschen gestaltete Natur. Venedig ist der Schlusspunkt, die große Coda seiner architektonischen Ansichten. Danach zieht Monet sich nach Giverny zurück, widmet sich dem Garten, den Seerosen.

Es passiert nicht so oft, dass ein Künstler wie Claude Monet (1840-1926) noch Geheimnisse preisgibt. Er gehört schon zu den Malern, an denen man im Museum manchmal schnell, wenn nicht achtlos vorübergeht; allzu bekannt, endlos reproduziert. Die Potsdamer Impressionisten-Schau vor anderthalb Jahren zur Eröffnung des Museum Barberini schaffte einen frischen Blick auf die einst revolutionäre Landschaftsmalerei des späten 19. Jahrhunderts, zeigte den Reichtum und die Vielfalt, die mit dem Label „Impressionismus“ zugedeckt wurden.

Die Landschaft als freie Sphäre

So ist es auch in der National Gallery in London. „Monet & Architecture“, die große Sommerausstellung mit 75 Werken, Leihgaben aus aller Welt, die so wohl nie wieder zusammenkommen, lädt dazu ein, mit Monet durch Europa zu reisen und sich von einem naheliegenden Gedanken leiten zu lassen. Landschaftsmalerei ist also in erster Linie auch Darstellung von Architektur. Die Landschaft wird von der Kunst zur gleichen Zeit als freie Sphäre entdeckt, wie die Zivilisation unwiderruflich in sie eingreift. In der Île-de-France fasziniert Monet das Dorf Vétheuil mit seiner Kirche. Er malt die Ansicht im Winter und im Sommer, in Nahaufnahme und in der Totalen. Wenig später umkreist er das hoch auf einer Klippe gelegene Gotteshaus von Varengeville in der Normandie. Einmal schmiegt sich der Bau in die Landschaft, ein andermal wächst die Kirche aus der Steilküste heraus – und dann ist sie verschwunden. Monet wechselt den Standpunkt, schweift mit dem Blick über das türkise Meer. Und kaum, dass man die kleine Zollhütte entdeckt, die sich zwischen blühenden Wiesen und schroffem Gestein wegduckt.

Im Jahr 1871 hält er sich in den Niederlanden auf. Die Bauten am Wasser – menschenleer die Landschaft auch schon, nur hier und da ein Segel – wirken wie Hausboote, die Spiegelung der Bäume und bunten Fassaden im Kanal erinnern an eine Farbpalette. Der Auftakt der Ausstellung vermittelt einen friedlichen Eindruck, nichts stört die Harmonie von Natur und Besiedelung. Ganz freiwillig ist der Künstler hier nicht. Die Preußen führen Krieg mit Frankreich, in Paris herrschen chaotische Verhältnisse. Die französische Hauptstadt wird belagert, Monet geht nach England.

Fahnenmeer. Der Nationalfeiertag in Paris, von Monet gemalt 1878.
Fahnenmeer. Der Nationalfeiertag in Paris, von Monet gemalt 1878.

©  Musée d’Orsay

London sollte sich zu einem Hauptmotiv des französischen Malers entwickeln. Bei seinem ersten Aufenthalt malt er die Themse mit Westminster im Hintergrund, vorn die Bauarbeiter am Embankment. Man erkennt in der National Gallery Monet als stillen Zeugen des mächtigen Industrialisierungsschubs in seiner Zeit. Die Lokomotive unter Dampf im Bahnhof Saint-Lazare Paris (1877). Die im Krieg zerstörte und schnell wiederaufgebaute Brücke von Argenteuil, wo gesichtslose Gestalten die Kohle für die Metropole von den Lastkähnen holen. Der Nationalfeiertag in Paris, ein Meer von Fahnen und Menschen. Bei Monet wirkt die Anonymität in der Großstadt nicht bedrohlich, sondern fröhlich-optimistisch durch die Masse der Farbtupfer.

Seriell hat er schon vorher gearbeitet, in Rouen in den 1890er Jahren wird es zum Prinzip. Die Fassade der großen Kathedrale am Nachmittag und bei Sonnenuntergang und am Morgen zielen ins Abstrakte und lassen auch an Andy Warhol denken. Bald wird er in die Seerosen-Einsamkeit ziehen, doch zuvor kommt Monet noch einmal für eine längere Arbeitsphase nach London. In Rouen hat er sich, um freien Blick auf die Kathedrale zu haben, in einem Haus gegenüber eingemietet, da stört ihn kein Mensch. In der britischen Hauptstadt bezieht er auf einem Balkon im Savoy Hotel seinen Posten. Bis 1901 füllt er hier über 100 Leinwände. Immer wieder die Waterloo Bridge, zu jeder Tageszeit und bei jeder Witterung; „Waterloo Sunset“ von den Kinks sitzt plötzlich im Ohr. Es ist wunderbar zu sehen, dass Monet ein Maler der Atmosphäre ist, der Luftströme, des Klimas, das sich in jenen Jahren dramatisch verändert. Hinter der Waterloo-Brücke stehen die qualmenden Schornsteine Londons. Monet bettet sie in die Stadtlandschaft ein, sie haben bei ihm nichts Bedrohliches.

„The Houses of Parliament“ im Nebel und bei Gewitter – da kommt man auf Monets dreißig Jahre zuvor gemalten Pont-Neuf im Regen zurück. Er konnte Temperatur und Nässe sichtbar machen. Ob es sich um heranrasende Dampfloks handelt oder schweres Wetter, Monet steht den Phänomenen mit asiatischer Ruhe gegenüber. Er war, wie viele andere Maler der Epoche, von den japanischen Künstlern und ihren seriellen Landschaftsbildern beeinflusst.

Und wenn man schon einmal im Hause ist, geht man von Monet im Sainsbury Wing hinauf in die Sammlungen der National Gallery, zu Turner. Er hat 1844 „Rain, Steam & Speed – The Great Western Railway“ wilder und romantischer gemalt, die Dampflok als mythologisches Wesen in aufgelöster Landschaft, die kein Oben und kein Unten kennt. Es sieht so aus, als hätte sich Monet auf Turner bezogen und nicht vielleicht umgekehrt. Um die Ecke – welcher Reichtum! – Canalettos Venedig, fotografisch bis ins Detail und in Raum 41 wieder Claude Monet. Von der Architektur hat er sich entfernt, nur noch Wasser und Pflanzen, himmlische Wasserpflanzen.

„Monet & Architecture“, National Gallery London, tägl. 10-18 Uhr, bis 29. Juli. Katalog 25 GBP. Info: nationalgallery.org.uk

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