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Zocker in Roulettenburg. Szene mit Alexander Scheer, Sophie Rois und Kathrin Angerer (hinten) in Bert Neumanns Bühnenbild. Foto: imago

© imago stock&people

Kultur: So ein Krokodil weiß viel

„Der Spieler“: Frank Castorfs neuer, fünfstündiger Dostojewski-Abend an der Berliner Volksbühne

„Sag mal, was is’n die Volksbühne eigentlich noch wert?“, fragt Alexander Scheer interessiert in die Runde. Er tänzelt dabei als spillriger Zocker an der Rampe auf und ab und imitiert ein Telefonat mit Frank Castorf aus Las Vegas. „Hm“, habe der Volksbühnen-Intendant in den Hörer genuschelt, „so sieben, acht Millionen“.

Und, um das Wichtigste gleich vorweg zu nehmen: Castorfs neuer Abend „Der Spieler“, seine mittlerweile fünfte Dostojewskij-Romanadaption, wirkt sich auf die Immobilie am Rosa-Luxemburg-Platz keinesfalls wertmindernd aus!

Dabei beginnt der Marathon, der nach der Premiere im Juni bei den Wiener Festwochen jetzt in der heimischen Berliner Volksbühne angekommen ist, so reinkulturell boulevardesk, dass einem kurz der neue Regie-Meister der sinnfreien Komödie, Herbert Fritsch, durch den Kopf schießt. In Bert Neumanns Drehbühnenbild – einem Parzellen-Meisterwerk, das vom abgerockten Bar-Eingang mit der Leuchtaufschrift „Leben ist tödlich“ über die Keller-Kaschemme bis zum Rokoko- Salon sämtliche wesentlichen Biotope der Spezies versammelt – fliegen die Türen. Französinnen wie Dostojewskis Blanche (schön schlampig: Margarita Breitkreiz) springen hier als russische Plateausohlenträgerinnen mit Mick-Jagger-Spleen in Fake-Pools und lassen sich von ihren Kollegen im besten Wienerisch „Mausi“ nennen. Und Frank Büttner mutiert im roten Rüschenkleid mit einer um drei Oktaven empor geschraubten Stimme gern auch mal zu Rotkäppchens Großmutter, damit die Kollegen einen Kalauer über die Wolfsschanze loswerden können.

Aber erstens wird die anfängliche Krachledernheit – wie fast alles an diesem Abend – umgehend selbstironisch ausgeschlachtet: Der Castorf meinte, grinst Scheer die vermeintliche Regie-Intention über die Rampe, man wolle heute erst mal ordentlich an der Story bleiben, um sich dann im zweiten Teil solide zu emanzipieren. Und zweitens ist die handfeste Tür-auf-Tür-zu-Comedy dem Sujet ja durchaus nicht unangemessen: In Dostojewskis 1867 binnen weniger Wochen heruntergeschriebenen Roman, der bekanntermaßen autobiografische Zocker-Erfahrungen zur Grundlage hat, fiebert eine verschuldete russische Generalsfamilie im fiktiven Ort Roulettenburg dem Ableben einer Moskauer Verwandten entgegen. Doch statt der Todesnachricht flattert leider die quicklebendige „Babuschka“ ins Haus und verzockt das komplette Guthaben am Spieltisch. Polina, die Stieftochter des Generals, und der Hauslehrer Alexej verausgaben sich unterdessen in einer unglücklichen Liebe. Was Kathrin Angerer und Alexander Scheer perfekt zwischen waidwunder Großäugigkeit und tollem Selbstzerquälungs- wie Gegnerzermürbungsslapstick spielen.

Im Übrigen hält der Regisseur Wort: Allerspätestens mit dem Auftritt der rasierklingenscharf nölenden Babuschka sieht der Abend wieder unverwechselbar nach Castorf aus; originelle Überblendungen, schier endlose Diskurswucherungen, geniale Zuspitzungen auf der einen und strapaziöse Längen auf der anderen Seite inklusive. Die grandiose Sophie Rois übertrifft sich in der ätzenden Babuschka- Rolle mit einem tollen Frank Büttner als Butler im Schlepptau tatsächlich noch einmal selbst. Wie sie sich am respektive auf dem im Bühneninneren verborgenen Roulette-Tisch, dessen Geschehnisse per Videokamera in eine Kinosaal-Kulisse übertragen werden, in den Ruin hyperventiliert, das erzählt in lässigster Beiläufigkeit mehr über Zockermentalitäten, Crashs, virtuell entkoppelte Werte und postmoderne Krisen-Egos als viele angestrengte Kunstversuche andernorts. Die von Castorf und den Schauspielern genüsslich ausgeschlachteten nationalistischen Diskurse über „den Engländer“oder „die russische Mentalität“ tun dazu das Übrige.

Irgendwann droht dieser „Spieler“ zwar zwischen lustigen selbstreferenziellen Anspielungen, Einsprengseln aus Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, Asien-Exkursen und dem Profundes zum Besten gebenden Plastikreptil, das Castorf zusätzlich aus Dostojewskis Erzählung „Das Krokodil“ geklaut hat, gnadenlos zu zerfasern: Die letzten 90 Minuten sind eine echte Publikumsherausforderung.

Dennoch: Der Abend wirkt viel wacher als andere Castorf-Inszenierungen der letzten Zeit. Und es macht durchweg Spaß, den Schauspielern – neben den Genannten Hendrik Arnst als herrlich trockenem General, Georg Friedrich als Marquis des Grieux, Mex Schlüpfer als Mr. Asley und Sir Henry im Krokodilsbauch – zuzuschauen. Klar: Vergleiche mit Castorfs legendären Dostojewkski-Trips aus den späten 1990er und frühen nuller Jahren kann „Der Spieler“ nicht gewinnen. Aber wenn man mal die Perspektive wechselt und Castorf heute nicht ausschließlich mit Castorf gestern, sondern mit der restlichen aktuellen Theaterlandschaft vergleicht, dann liegt dieser Fünfstünder weit oberhalb des Durchschnitts.

Wieder heute und am 8. 10., 19 Uhr

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