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Senthuran Varatharajah, Autor und Philosoph; 2016 fotografiert in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg.

© Thilo Rückeis

Senthuran Varatharajahs Roman "Rot (Hunger)": Der Schnitt

„Rot (Hunger)“: Senthuran Varatharajahs literarischer Versuch über den Kannibalen von Rotenburg ist vor allem ein Sprachexperiment.

Was bei der Lektüre von Senthuran Varatharajahs neuem Roman (S. Fischer, Frankfurt/Main. 120 S., 23 €.) zuerst auffällt: der Zeilenwechsel. Die Zeilen enden wie verstümmelt – als hätte der Verlag bei der Herstellung gepfuscht oder das Prinzip der Silbentrennung vergessen.

Und den Trennungsstrich gleich mit: „Ich kannte den Abs / tand, den wir einmal Abend nennen, und auch den zwischen meinem Z / eige- und Mittelfinger“ liest man zum Beispiel. Einzelne Sätze sind konkrete Lyrik wie „Ein Sch / nitt / ist nur ein Schnitt.“ Wobei auf das „nitt“ zuerst anderthalb leere Zeilen folgen, bis der Satz sein tautologisches Ende findet.

Aber ums Schneiden geht es schließlich in diesem Roman. Und ging es auch bei dem berühmten Verbrechen, das ihm zugrunde liegt. Wobei das schon die Frage ist. Ob es wirklich ein „Verbrechen“ ist – und nicht einfach nur ein Fall für die Psychiatrie –, wenn sich ein Mann nichts so sehr wünscht, wie sich selbst entmannen und zerstückeln zu lassen.

Und ein anderer, sich einen Menschen so einverleiben zu können, dass dieser für immer bei ihm bleiben, untrennbar mit ihm verbunden sein würde. Und wenn dann beide – weil im Internet jedes noch so kaputte Töpfchen sein passendes Deckelchen findet – in schrecklicher Einvernehmlichkeit gemeinsam ihre Träume in die Tat umsetzen.

Bizarre Details

Wobei der „sexuelle Konsens“, wie die mitlaufende Videokamera dokumentierte, auch dann noch anhielt, als längst das Blut floss und der abgetrennte Penis in der Pfanne lag. „Das ist eine Liebesgeschichte", lautet denn auch die Vorbemerkung des Autors zu seinem schmalen Roman, der durchaus nicht die erste ästhetische Reaktion auf diesen Fall ist.

Im Gegenteil: Vermutlich hat seit dem „Werwolf von Hannover“, Fritz Haarmann, in den 20er Jahren kein anderer deutscher Kriminalfall Künstler:innen verschiedenster Couleur so angeregt wie der des „Kannibalen von Rotenburg“, Armin Meiwes: von Bands wie Rammstein oder Wilde Jungs über Dramatiker:innen wie Igor Bauersima oder Elfriede Jelinek bis hin zum Regisseur Martin Weisz mit seinem Horrorfilm „Rohtenburg“ (2006).

Mehr noch als bizarre Details wie die in Gefrierbeutel abgepackten 32 Kilogramm Menschenfleisch, die die Polizei in Meiwes Gefriertruhe fand, dürfte es das verstörende Moment des gemeinsamen Einverständnisses sein, das die Faszinationskraft dieses Falles ausmacht.

Das gilt jedenfalls für den deutschen Schriftsteller und Philosophen tamilischer Herkunft, Senthuran Varatharajah. Schon in seinem ambitionierten Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“, 2014 beim Klagenfurter Wettlesen mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet und von Ulla Hahn als „langes Prosagedicht“ gerühmt, war es das Internet, das einen geschützten Raum für vertrauliche Kommunikation bot.

„Wir sagen: ich h / abe Dich zum Fressen gern.“

Wie im neuen Roman jenes Online-Forum, in dem sich seinerzeit der Computertechniker Armin Meiwes (im Roman A genannt) und der Ingenieur Bernd Jürgen Brandes (B) kennenlernten.

A und B sind aber nicht die einzigen Protagonisten dieses Romans. Denn eine zweite Gemeinsamkeit mit Varatharajahs Erstling ist ein Ich-Erzähler, der den Namen des Autors trägt. Wie dieser wurde auch der Erzähler im Kindesalter von den Eltern aus dem Bürgerkrieg auf Sri Lanka gerettet, wohnt während der Arbeit am Roman dank eines Arbeitsstipendiums im Bamberger Künstlerhaus Villa Concordia oder hält 2019 zu Christi Himmelfahrt die Kanzelrede im Berliner Dom.

Deshalb erzählt „Rot (Hunger)“ nicht nur in einer kühlen, skrupulösen, sich der Gegenwartsform bedienenden Sprache davon, wie A und B im März 2001 auf einem Rotenburger Gutshof ihren Wahnsinn auslebten. Sondern auch von den Anstrengungen des Ich-Erzählers, sich dem Ungeheuerlichen anzunähern.

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Dazu gehört der Versuch, mit dem noch immer inhaftierten A einen Briefwechsel zu beginnen – oder auch Experimente mit Drogen und Selbstverletzung. Dazu gehören aber auch Reflexionen über eigene Erfahrungen von Gewalt und Exklusion, vom Aufwachsen als Sohn eines „Unberührbaren“ bis zum Erleben von Rassismus hierzulande („Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen. Du weißt es.“).

Oder der Rückgriff auf das Mittel der Dokumentation. So besteht die direkte Rede von A und B ausschließlich aus Originalzitaten, aus Chats, Mails oder späteren Interviews mit Meiwes, weshalb die ungeheuerlichsten Sätze authentisch sind, wie etwa Bs Bitte: „Versuch mich so lange wie möglich am Leben zu halten“.

Selbst vor einer Tatortbegehung schreckt der Ich-Erzähler nicht zurück, als wäre er nur ein weiterer trauriger True-Crime-Afficionado, der sich bei der Besichtigung des seit zwei Jahrzehnten leerstehenden Gutshofs endlich seinem Voyeurismus hingeben kann: „Vor uns: die Kühltruhen, die jeman / d in den Flur getragen hatte … Ich konnte das Dienstsiegel lesen.“

Sprache und Körper, Leib und Gedächtnis

Und immer dabei sind die einschlägigen Werke von Sexualwissenschaftlern, vor allem aber von französischen Denkern wie Georges Batailles und Roland Barthes. Gerade die von Barthes erforschte „Sprache der Liebe“ entpuppt sich als eine Sprache des Sich-Einverleibens, ja der kannibalischen Lust: „Wir sagen: ich h / abe Dich zum Fressen gern.“

Nicht zuletzt die Erinnerung an Einsamkeitserfahrungen, maßloses Begehren und transgressiven Sex mit seiner Freundin Leila bestätigen den Verdacht des Ich-Erzählers, wonach die kannibalische Lust von A und B am Ende menschlicher ist, als es uns lieb ist: „Ich spüre immer noch Leilas Rachen auf meinem Schwanz. Ich höre ihre Küsse auf meinem Nacken, nachde / m sie sagte: … my love. I will destroy your face with my pussy.“

„Ich habe die Worte wörtlich genommen“, zitiert der Ich-Erzähler Armin Meiwes aus einem späteren Interview: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wurde. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“

Man tut gut daran, „Rot (Hunger)“ weniger als Roman denn als Sprachexperiment zu lesen, in dem Senthuran Varatharajah, der sich selbst als „Schriftsteller ohne Sprache“ bezeichnet, die Grenze von Sprache und Körper auszuloten versucht. Das mag nicht in jedem Detail überzeugend sein; lange im Gedächtnis bleibt dieser Text in jedem Fall.

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