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Ein Meister mit Marotten. Der russische Pianist Grigory Sokolov.

© picture alliance / dpa

Grigory Sokolov in der Philharmonie: Seine Kunst kennt keine Grenzen

Alle Jahre wieder: Der russische Pianist Grigory Sokolov gibt sich in der Berliner Philharmonie die Ehre und bringt dabei sämtliche stilistische Mauern zum Wanken.

Es scheint, als sei das Saallicht diesmal noch stärker heruntergedimmt, als verschwinde das Publikum in der ausverkauften Philharmonie in einer milden Dämmerung, in deren Mitte nur schemenhaft ein Flügel auszumachen ist. Grigory Sokolov ist zurück zu seinem alljährlichen Konzert, lang ersehnt von seinen treuen Anhängern, die hier andächtig, tatsächlich, eine Gemeinde bilden. Man kennt die Marotten des 66-jährigen Russen, diese Funzelstimmung, die abgezirkelten Auf- und Abtritte, die ewigen sechs Zugaben. Und lässt sich bereitwillig darauf ein, so sehr, dass es Sokolov tatsächlich gelingt, erst einmal eine Stunde lang Mozart zu spielen, ungestört von Applaus zwischen den drei einzelnen Werken.

Grenzen kennt die Kunst Sokolovs nicht. Wer ihm lauscht, gerät unausweichlich in einen Schwebezustand, der alle Vorstellungen von stilistischen Mauern zum Wanken bringt. Barock, Klassik, Romantik – was heißt das schon. Allein in Mozarts Fantasie c-moll KV 475 entdeckt Sokolov das gesamte klingende Universum, und man könnte ihm durch die Jahrhunderte bis in die Moderne folgen, wenn er alle harmonischen Bindungen lockert, diese Musik regelrecht dekonstruiert. Nichts erscheint harmlos in dieser Kunst, jeder Triller als Ausdruck eines gesteigerten Bewusstseins für das Spiel, der ganze, nicht enden wollende Strom wie ein demütig errungener Sieg der Fantasie.

Eine Symphonie des Lebens

Darin liegt das ungemein Tröstliche eines Sokolov-Auftritts, dessen allbeherrschende Melancholie weniger gallige Züge trägt als in vergangenen Jahren. Es darf, es muss sich alles aussingen, ohne Abkürzungen. Was unter den Händen dieses Pianisten reift, wird so lange getragen, bis es wieder gehen kann. Es ist ein Abend der Abschiede, der im zweiten Teil zwei Beethoven-Sonaten verschmilzt, op. 90 und op. 111, beide von Natur aus zweisätzig, nun gefügt zu einer Symphonie des Lebens. Von der noch unbelebten Klangmaterie durch Fugenschluchten bis zum letzten Lebewohl beschreitet Sokolov einen Pfad voller Entdeckungen, die immer wieder nur staunen machen.

Schubert, Schumann, Chopin, Rameau spielt er in der zugegebenen dritten Konzerthälfte. Nach drei Stunden löscht Sokolov mit finsteren Akkordschlägen das verbliebene Licht. Die sechste Zugabe ist verklungen. Jetzt heißt es, sich ein Jahr in Geduld zu üben.

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