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Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger, 72

© picture alliance / dpa

Gertrud Leuteneggers "Späte Gäste": Schöne Masken

Migration als Bild des Verlorenseins: "Späte Gäste", ein betörend poetischer Roman der Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger.

Ist man nicht immer, wenn jemand geht, in einem Schwebezustand gefangen? Erinnerungen an den Verschwundenen verschwimmen mit der fremd werdenden Gegenwart. Zwar ist man selbst da und lebendig, aber doch in einer diffusen Gefühlswelt gefangen, in einem Meer aus Eindrücken ertrinkend, nach Rettungsbojen Ausschau haltend, nach Halt gebenden Geschichten.

„Doch reglos und gerade ausgestreckt kann ich mich der Müdigkeit nicht erwehren. Sie kommt in immer stärkeren Wellen. Ist es möglich, dass in dieser klaren Februarnacht Nebel aus der Ebene das Haus erreicht haben? Etwas Unruhiges, Dunstiges weht in kurzen Abständen am Fenster vorbei. Aber ich liege schon nicht mehr in der roten Kammer. Es ist eine warme Sommernacht, und trotzdem sind noch viel dichtere Nebelschleier vor dem Fenster. Oder ist es Rauch, schwerer beißender Rauch?“

Es ist Februar. Die Ich-Erzählerin kehrt in ein Dorf in der Lombardei zurück, in dem sie einmal mit Mann und Kind gelebt hat. Nun ist der Mann, ein Architekt mit hochfliegenden Träumen, gestorben. Wir werden Zeugen einer „seltsamen Totenwache“.

Orion, der ehemalige Gefährte, dem wir schon vor 20 Jahren in Gertrud Leuteneggers Roman „Pomona“ begegnet sind, liegt in der verriegelten Totenkapelle. Der Tote ist eine mythische Gestalt: Er wird immer geheimnisvoller, imposanter und impulsiver, je länger die Nacht dauert, je mehr sich die Erzählerin in ihren Erinnerungen verliert.

Es geht in eine verschlungene Wachtraumnacht

„Seine stoische Unempfindlichkeit jedem Wetter gegenüber ließ ihn als ein Fabelwesen aus einer anderen Klimazone erscheinen, zudem schlief er tagsüber meist und starrte nachts in den letzten vom lombardischen Dunst ausgesparten Tiefen des Himmels nach den Sternen.“

„Späte Gäste“, der neue Roman der Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger (Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.177 Seiten. 22 €.), ist von einer betörenden, poetischen Kraft: Fast unmerklich rutscht man mit der Erzählerin hinein in eine verschlungene Wachtraumnacht, folgt den losen Fäden ihrer Wahrnehmung, streift mit ihr Erlebnisse aus verschollenen Jahren, die nur ganz vage motivisch miteinander verknüpft sind.

Im Gasthaus des verreisten Wirts verbringt sie diese Stunden, denkt nicht nur zurück an Orion und ihr Leben mit ihm, sondern auch an die Haushälterin Serafina und ihr tragisches Schicksal, an die sizilianische Heimat des abwesenden Gastgebers, an die dörflichen Jahre mit dem Kind. Immer scheint in diesen aufblitzenden Momentaufnahmen des Vergangenen etwas Existenzielles auf, das zu tun hat mit Ankunft und Verlust, mit Fremdsein und Flucht, mit tiefsitzender Angst und trostreichem Vertrauen.

Die Fastnacht in der Lombardei liefert dabei ein eindringliches Bild: Verkleidet mit Holzmasken als „Schöne“ und mit Lumpen als „Hässliche“ stehen sich die feiernden Protagonisten gegenüber – der Reichtum, die Grazie, das Begehrenswerte erblüht erst im Widerschein des Düsteren, des Schäbigen, des Schmutzigen.

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"Die Schönen waren von einer derart großen Anzahl von Hässlichen begleitet, dass sie unmöglich alle aus dem Dorf sein konnten. Auch trugen nur wenige unter ihnen die übliche Holzmaske, deren Ausdruck roh, abstoßend und düster ist, in allem der Gegensatz zu den hochmütigen Masken der Schönen mit dem mokanten Lächeln. Viele der Hässlichen hatten nur Stofffetzen, in die Augenschlitze und Mundlöcher eingeschnitten waren, ums Gesicht gebunden.“

Serafina erzählt von diesem Festmahl, das von den Hässlichen gekapert wurde: Unter dem Schutz der Verkleidung hatten sich Flüchtlinge eingeschlichen. Die Migranten werden bei Leutenegger zum ganz konkreten Bild des Verlorenseins, der Heimatlosigkeit, der Ortlosigkeit, die auch die Erzählerin erfasst hat.

Sie bewegt sich zwischen den Welten, zwischen ihrer Vergangenheit und einer Gegenwart, die nicht recht zu greifen ist, zwischen einer zauberischen und einer ganz drastischen Wirklichkeit. Leuteneggers neuer Roman ist ein Mysterienspiel. Eine Beschwörung der Verschwindenden. Die sachte Annäherung an eine Welt, die so gespenstisch real ist, dass sie in halbbewusstem Zustand karnevaleske Züge annimmt.

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