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Es ist nicht alles schlecht am Käferleben! In Andreas Merz-Raykovs Kafka-Inszenierung entkommt Gregor Samsa als solcher der Leistungsgesellschaft.

© dpa

„Der Käfer“ im Heimathafen Neukölln: Samsas Glück

Im Heimathafen Neukölln inszeniert Andreas Merz-Raykov die "Verwandlung" unter dem Titel "Der Käfer" - und hat seinen Kafka offensichtlich so gut gelesen, dass das sogar grotesk-komisch werden kann.

Man kann Gregor Samsa glücklich nennen. Sicher, der Mann findet sich eines Morgens zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Aber das Leben mit Fühlern und Panzer hat auch Vorteile. Als 85-Kilo-Käfer kann der gebeugte Außendienstmitarbeiter aus der Tretmühle seiner Lohnsklaven-Fron ausbrechen. Muss nicht mehr zu unchristlicher Zeit im Zug „in die abgekämpften Gesichter der anderen Idioten lächeln“. Gregor stand als Alleinernährer seiner Familie unter gewaltigem Druck. Ein klarer Fall von Burnout. Erst als Insekt blüht er wieder auf.

Am Heimathafen Neukölln liest Regisseur Andreas Merz-Raykov Kafkas „Verwandlung“ unter dem Titel „Der Käfer“ als Parabel auf die schöne neue Arbeitswelt nebst ihrer Kollateral-Krankheiten und Mode-Diagnosen. Im Studio des Theaters an der Karl-Marx-Straße spielt sich die Geschichte einer Metamorphose als überschießende, hochkomische Kapitalismusfarce ab. José Luna hat eine schräg-schöne, drehbare Bühne gebaut, die auf der einen Seite die Küche der Familie Samsa ist. Eine kitschig-prollige Resopalhölle nebst Pudelportrait. Und auf der anderen Seite das Kinderzimmer des Textilmessevertreters Gregor, gespielt von Alexander Ebeert, der frisch verwandelt „I will survive“ zur Klavierbegleitung von Felix Raffel schmettert. Die neue musische Seite an Käfer-Gregor geht vor allem dem Vater (Frank Büttner) schwer gegen den Strich. Schwester Grete (Sascha Ö. Soyden) unterstellt dem krabbelnden Bruder einen „Boreout“, krankhafte Unterforderung, und liest ihm die Leviten: „Gregor, das ist Jammern auf hohem Niveau.“

Zu spät. Ein Stepptanz-Trio älterer Damen („The Käferettes“) ist dem Arbeitsunwilligen erschienen, hat ihn marxistisch indoktriniert und ihm das Leben in der sozialen Hängematte schmackhaft gemacht: „Du musst die Wettkampflogik hinterfragen!“ Die Mutter (Bärbel Bolle) drückt ihre Solidarität mit dem Ton-Steine-Scherben-Klassiker „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ aus. Gregor folgt, schreibt Briefe an den Vater und überlegt, sich dem Nature Theater of Oklahoma anzuschließen. Der Junge hat seinen Kafka gelesen.

Wie auch Regisseur Merz-Raykov, der von der Vorlage gar nicht so weit abweichen muss, um zu seiner irrwitzigen Erzählung über Leistungsdiktat und prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu gelangen. „Der Käfer“ ist ein durchweg toll gespielter, clever gebauter Abend. Und nebenbei eine lustige Selbstbespiegelung der freien Szene. Mit dem feinsinnigen Insekt, das seinen Lebensentwurf vor der Elterngeneration rechtfertigen muss, werden sich nicht wenige Performance-Künstler identifizieren können.
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