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Wladimir Putin, Präsident von Russland

© dpa/AP/Alexander Zemlianichenko

Russischer Angriffskrieg: Putins Niveau erinnert Sloterdijk an „Tischgespräche Hitlers“

Was treibt Wladimir Putin an? Philosoph Peter Sloterdijk hat sich dazu Gedanken gemacht. Zudem positioniert er sich in der Debatte um Waffenlieferungen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht den russischen Präsidenten Wladimir Putin als einen relativ unbedeutenden Mann, der sich plötzlich an der Spitze eines riesigen politisch-militärischen Komplexes wiedergefunden hat und dazu eine passende Geschichte zusammenfantasiert. „Er wacht am Morgen auf und sieht Russland eingekreist.“

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Im Interview der Deutschen Presse-Agentur liefert Sloterdijk aber nicht nur eine schonungslose Analyse des notorischen Lügners im Kreml, er warnt zugleich vor der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und pariert Kritik des Botschafters Andrij Melnyk.

Herr Sloterdijk, seit Ihrer „Kritik der zynischen Vernunft“ gelten Sie als der Experte für Zyniker und Zynismus. Ist Putin einer der großen Zyniker der europäischen Geschichte?
Es könnte dazu kommen, dass er eines Tages nicht nur in der politischen Geschichte einen Platz bekommt, sondern auch in der Geschichte der Ideologien, das heißt der Verzerrungen des Bewußtseins. Man hat den Eindruck, dass er alles dafür tut.

Bei „Verzerrung“ denken Sie jetzt etwa an seine Begründung des Ukraine-Kriegs? Dass er Russland vor der Nato verteidigen müsse, die Russland eingekreist habe?
Solche Dinge und ähnliche hat er so oft wiederholt, bis sie zu seinem Weltbild wurden. Er wacht am Morgen auf und sieht Russland eingekreist. Die größte Lüge zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie nicht einfache kontrafaktische Behauptungen aufstellt, sie konstruiert mithilfe von ein paar korrekt aufgefassten Realitätspartikeln eine falsche Geschichte.

Das kann man bei ihm sehr deutlich sehen. Doch wird man bei Putin auch regelmäßig Zeuge der nacktesten Lügen. Es hat selten einen Politiker gegeben, bei dem die Lüge einen so großen Anteil seiner sprachlichen Äußerungen ausmacht.

Nackte Lüge - das wäre etwa seine Behauptung nach der Ermordung eines politischen Gegners, er habe damit nichts zu tun?
Oder wenn er zu der Vergiftung Alexej Nawalnys zynisch bemerkt, „wenn wir es gewesen wären, wäre der Mann jetzt nicht mehr am Leben“. Das ist eine Spitzenformulierung des Herrenzynismus. Da hat das falsche Bewusstsein den Schritt von der einfachen Lüge in eine quasi teuflische Dimension vollzogen, die der völligen unmoralischen Enthemmung.

Sie haben Putin kürzlich beim Philosophiefestival Phil.Cologne in Köln als eine Figur des 19. Jahrhunderts beschrieben. Er führt altmodisch anmutende Eroberungskriege, scheint aber auch die Feudalgesellschaft des Zarenreichs mit einer winzigen Oberschicht neu erschaffen zu wollen. Die große Masse des Volkes soll gar nichts anderes als Armut erstreben.
Alles andere wäre in seinen Augen das Gift der Verwestlichung, vor dem er seine Landsleute bewahren zu wollen vorgibt. Zuviel Konsum macht schwul. Die reine russische Seele ist die, die im Unglück zuhause sein kann.

Das sind Vorstellungen, die wohl mit dem Armutschristentum des vergangenen Jahrtausends kompatibel waren. Mag sein, dass sie in Russland länger überlebt haben als im Westen, und jetzt erfahren sie, auch mit Hilfe der orthodoxen Kirche, ihre postsowjetische Renaissance.

Was treibt Putin letztlich an? Kürzlich hat er sich mit Peter dem Großen verglichen. Ist es sein Ziel, als großer Eroberer in die russische Geschichte einzugehen?
Eher als Wiederhersteller der „russischen Größe“, ja, einer „russischen Welt“, die naturgemäß weitgehend fiktiver Natur ist. Er gönnt den abgespaltenen ehemaligen Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit nicht und trauert der Sowjetunion nach, als sei sie nur eine vorübergehende Gestalt des russischen Imperialismus gewesen. Er ist in diesem Punkt ziemlich geschichtsblind.

Er fabuliert sich eine Historie zusammen, ganz in einem Modus, wie es halbgebildete Personen, die zufällig an die Macht gekommen sind, zu tun pflegen. Seine Reflexionen stehen auf dem Niveau der rabulistischen Tischgespräche Hitlers - die kann man strukturell durchaus vergleichen.

Der Amateur, der sich hier und dort etwas zusammengelesen hat und sich seiner Sache nun sehr sicher ist.
Ja, ein rasender Amateurismus. Der agiert freilich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ein kleiner, relativ unbedeutender Mann an die Spitze eines großen politischen Komplexes geraten ist und sich nun das dazugehörige Drehbuch selber zusammenfantasiert.

Offenbar ist Putin in einer zweiten Phase dieses Fantasierens, denn anfangs hat er ja ganz andere Dinge gesagt. Das großrussische Drehbuch hat sich erst in einer zweiten Phase intensiviert.

Hat er sich radikalisiert?
Ich würde sagen, er ist zunehmend das Opfer seiner Autohypnose geworden. Er war ein leerer Schlauch, der sich erst mit der Zeit anfüllen musste mit einer nachträglichen Begründung seines Erfolges. Die autohypnotische Selbstinduktion in eine historisch bedeutende Rolle scheint im Moment die treibende Kraft zu sein.

Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Wer noch kein Grau gedacht hat“. Die aktuelle Ukraine-Debatte enthält nur wenige Grau- und Zwischentöne. Stattdessen werden klare Bekenntnisse eingefordert. Die Gretchen-Frage lautet: Bist du für oder gegen die Lieferung schwerer Waffen?
Wir erleben eine objektiv sehr konfuse Situation, denn die westlichen Länder haben sich dazu bringen lassen, rhetorisch eine Art bedingungsloser Solidarität mit der Ukraine zu deklarieren. Auf der anderen Seite sind sie entschlossen, nicht selbst Kriegspartei zu werden. In dieser Ambivalenz bewegt sich die gesamte Diskussion.

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Die Lieferung schwerer Waffen wäre doch mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem offenen Eintritt in die Position der Kriegspartei. Wenn westliche Politiker davor bisher zurückgeschreckt sind, hat das gute Gründe. Deutschland steht hier keineswegs allein, auch Frankreich und die USA waren sich bisher darin einig, bei den schweren Waffen Zurückhaltung zu üben.

Das sieht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj anders. Er fordert insbesondere den deutschen Kanzler Olaf Scholz auf, sich endlich klar zu positionieren.
Es liegt in der Natur der Dinge, dass die ukrainische Seite versucht, den Westen in den Krieg hineinzureden. Das gilt sowohl für Selenskyj als auch für den ukrainischen Botschafter in Deutschland.

Gerade den Deutschen werfen sie mehr als allen anderen Seiten vor, noch nicht Kriegspartei geworden zu sein, weil sie in Deutschland das schlechte Gewissen und die Neigung zum Einknicken verspüren. Dabei finden sie in den deutschen Journalisten willige Mitarbeiter.

Wie enttäuschte Theaterbesucher, die gern mehr Spektakel gesehen hätten, werfen manche Journalisten dem Kanzler Scholz seine vorsichtige Haltung vor. Das erinnert an aus dem Ruder gelaufene Theaterkritik.

Sie finden, dass sich die Journalisten da von einer Stimmung mitreißen lassen? Dass sie zu sehr Partei nehmen?
Auf jeden Fall. Mir ist bei der gesamten sogenannten Berichterstattung sehr unwohl. Man hört kaum noch Gegenstimmen, Stimmen, die zur Mäßigung mahnen. Man denke daran, in wie unfairer Weise man versucht hat, die Initiatoren des Offenen Briefes von Alice Schwarzer zu diskreditieren.

Und die Bevölkerung, wie schlägt sich die in Ihren Augen?
Ich finde, dass sich die Deutschen doch in einer erstaunlich eindeutigen Weise als freundliche Gastgeber profiliert haben, ganz anders, als es der ukrainische Botschafter dieser Tage ausgesprochen hat ...

... Andrij Melnyk, der gesagt hat, dass sich viele ukrainische Flüchtlinge in Deutschland nicht willkommen fühlen und deshalb zurückgehen.
Das ist, glaube ich, ganz unrichtig. Wir selber haben auch mehrfach Flüchtlinge aufgenommen, und wir kennen Leute, die es ebenfalls getan haben. Wir wissen aus erster Hand, dass Gefühle des Nichtwillkommenseins eher die Ausnahme als die Regel sind.

Im Gegenteil, es existiert nach wie vor eine ganz große Welle der Freundlichkeit und der Hilfsbereitschaft. Noch immer sind rund eine halbe Million Ukrainer bei uns, und wenn viele schon in die Westukraine zurückgekehrt sind, dann weil sie von Anfang an nur temporär als Schutzsuchende gekommen waren, nicht als Emigranten.

Zur Person: Peter Sloterdijk (74) ist einer der bedeutendsten deutschen Philosophen. Anstelle der reinen Lehre im Elfenbeinturm sucht er den politischen Diskurs, so moderierte er lange das „Philosophische Quartett“ im ZDF. Seine 1983 erschienene „Kritik der zynischen Vernunft“ ist eines der meistverkauften philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts. Sloterdijk lebt in Berlin. (dpa)

Christoph Driessen - dpa

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