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Letzte Späße. Noémie Merlant (Mitte) auf Junggesellinnenurlaub.

© Nord-Ouest Films

Romantik und Liebe in Cannes: Eine Sommeraffäre, ein Camgirl und das Paris der Tinder-Gegenwart

Schauspielerin Noémie Merlant kann man dieses Jahr gleich in zwei Filmen in Cannes sehen. Beide erzählen auf ihre Weise von der Liebe.

Von Andreas Busche

Cannes ist ein gefräßiges Biest. In diesem zweiten Pandemie-Jahr ganz besonders, in dem die großen Festivals ihre Vormachtstellung behaupten müssen. Was man an Cannes sonst so schätzt, die Übersichtlichkeit des Programms, ist nach der abgesagten Ausgabe 2020 einem Überangebot zum Opfer gefallen.

Vielleicht aber auch der Maßlosigkeit von Festivalchef Thierry Frémaux, der, so scheint es, jeden Film, dem er habhaft werden konnte, an sich gerissen hat. Auf der Zielgraden führt die All-You-Can-Eat-Mentalität zu einem Völlegefühl, was in Kombination mit den schweren Festivalmahlzeiten zwischen zwei Filmen (Pizza oder Pasta), schon mal zu vorzeitigen Erschöpfungserscheinungen um 23 Uhr im Salle Debussy führt.

24 Filme im Wettbewerb zollen ihren Tribut. Namen wie Nanni Moretti, Ildikó Enyedi, Sean Baker und Mahamat-Saleh Haroun rauschen so durch, auch weil man dieses Jahr eher auf Quantität denn auf Qualität zu setzen scheint.

Selbst ein Highlight wie „Petrov’s Flu“ von Kirill Serebrennikow, das diesen ephemeren Ort zwischen Traumzustand, Halluzination und Delirium besetzt, für den das Kino eigentlich so prädestiniert ist. „Petrov’s Flu“ erzählt die Odyssee eines Automechanikers kurz nach dem Kollaps der Sowjetunion – und fügt sich somit in den Fluss der flüchtigen Eindrücke ein.

Doch wie schon in seinen letzten beiden Cannes-Beiträgen „Der die Zeichen liest“ (2016) und dem Punk-Musical „Leto“ (2018) beweist Serebrennikow genug Vertrauen in die erzählerische Wucht seiner Bilder, die sich bei aller Konkretion eine poetische Durchlässigkeit bewahren. Schon weil es für eine Weile der letzten Film des russischen Theaterstars sein könnte, der im Juni 2020 zu einer dreieinhalbjährigen Bewährungsstrafe verurteilt wurde, lohnt sich ein zweiter konzentrierter Blick. Nur eben nicht in Cannes.

Umso schöner, wenn man innerhalb eines Tages gleich zwei Mal einem vertrauten Gesicht begegnet. Es gehört Noémie Merlant, seit ihrer Hauptrolle in Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ eine der interessantesten Darstellerinnen des französischen Kinos. Merlant präsentiert außerhalb des Wettbewerbs ihr Regiedebüt „Mi Lubita Mon Amour“ („Meine Liebe“ in Französisch und Rumänisch). Außerdem spielt sie die Hauptrolle im Wettbewerbsfilm „Les Olympiades“ von Kraftkino-Regisseur Jacques Audiard – abgestimmt mit Hilfe von Ko-Autorin Sciamma.

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Im trotz seines sommerlichen Flairs opaken „Mi Lubita Mon Amour“ verbringt die Schauspielerin Jeanne (ebenfalls Merlant) mit drei Freundinnen einen letzten Junggesellinnenurlaub – in Rumänien. Die Frage, wie sich Liebe und Karriere vereinbaren lassen, ist dieses Jahr ein wiederkehrendes Motiv – natürlich wieder nur unter Frauen. Jeanne entzieht sich dieser Lebensaufgabe, indem sie sich auf eine Sommeraffäre mit dem 17-jährigen Nino einlässt (Gimi-Nicole Covaci, auch Merlants Ko-Autor).

Noémie Merlant hält die moralische Ambivalenz dieser doppelten Asymmetrie (ökonomisch wie libidinös) wertfrei in der Schwebe, auch ihr rätselhaftes Gesicht gibt nicht mehr preis als nötig. Ob sie Jägerin ist oder doch nur Opfer ihrer Selbstzweifel, bleibt offen; diesem Sommerliebe geht die Leichtigkeit ab. Aber dass Merlant sich eine so unzugängliche Figur selbst schreibt, zeigt, womit bei ihr noch zu rechnen ist.

Zum Ausgleich erlöst in „Les Olympiades“ Céline Sciamma sie dafür von ihren Liebesleiden. Merlants Geschichte um eine Maklerin, die sich im Paris der Tinder-Gegenwart in eine Ménage-à-trois begibt und schließlich mit einem Camgirl von einer Pornoseite anbandelt, ist der zaghafte Höhepunkt in Audiards monochromem Episodenfilm. Auch bei den Digital Natives ist Paris die Stadt der Liebe.

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