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Wandlitzer Idylle. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht mit Ehefrau Lotte und Tochter Beate im Jahr 1965.

© Ullstein

Roman von Ines Geipel: Staatskind in der Mitten

Ines Geipel erzählt in „Tochter des Diktators“ vom erstickten Leben der Beate Ulbricht, Adoptivkind von Lotte und Walter Ulbricht.

Es hätte ein dunkles, kaltes Buch werden können. Schroff wie Berlin in jenem eisigen Januar 1992, „eine Stadt aus Schnee, Rost und Ruß.“ So sagt es Anni Paoli, eine Frau aus dem Süden, geboren im toskanischen Dorf Cigoli, Ich-Erzählerin in Ines Geipels Roman „Tochter des Diktators“. Anni gibt es, und es gibt sie nicht. Ines Geipel ist der heute über 70-jährigen Zeitzeugin begegnet bei ihren Erkundungen in Cigoli, aber wie viel tatsächlich gelebtes Leben in der Figur steckt, weiß nur die Autorin.

Wie es auch sei: Diese Anni ist ein Glücksfall. Als Fiktion. Sie trägt eine kurze, furchtbar deutsche Liebesgeschichte ins Helle. Dorthin, wo die Frau, nach deren Spuren die Italienerin Anni im Nachwende-Berlin sucht, niemals gelangen konnte: Beate Ulbricht, geboren unter dem Namen Maria Pestunowa, war die Adoptivtochter des Ehepaars Lotte und Walter Ulbricht. Tochter eines unbekannten Vaters und einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die Mutter starb 1944 bei einem Bombenangriff auf Leipzig. Der Säugling kam ins Waisenheim, dann zu einer Pflegemutter. Doch dieser wurde er im Alter von knapp zwei Jahren aus den Händen genommen. Von einem aufstrebenden Politiker-Paar, zurückgekehrt aus der Moskauer Emigration.

Ulbricht, der absichtslose Mauerbauer und seine energische Frau, bildeten mit Beate, die sich später Bea nennt, von nun an eine sozialistische Vorzeige-Familie. „Zu einem wertvollen Glied unseres neuen Deutschlands“ werde das Mädchen heranwachsen, schrieb die Adoptivmutter an das sächsische Jugendamt. Ines Geipel kennt die Briefe, auch die späteren, die zwischen Mutter und Tochter gewechselt wurden, als die Brüche nicht mehr zu leugnen waren. Im Jahr 2009 hat Geipel das kurze Leben des „Staatskinds“ in einem nichtfiktionalen Text skizziert, erschienen im Buch „Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SED-Regime“.

Ines Geipel war die rebellische Tochter eines Stasi-Agenten

Warum nun ein Roman? Weil Ines Geipel eine große Erzählerin ist, eine, die beides kann: das essayistische, über das tatsächlich Geschehene reflektierende Schreiben, wie in ihren klugen Analysen über Amokläufer („Der Amok Komplex“) oder in der Besichtigung der eigenen Generation („Generation Mauer“), aber auch ein schwebendes, freies Erzählen in ganz eigenem Ton. „Tochter des Diktators“ ist nach langer Abstinenz von der Fiktion Ines Geipels dritter Roman – und der erste, in dem sie sich aus dem eigenen autobiografischen Stoff entfernt. Obwohl es Parallelen gibt: Ines Geipel war die rebellische Tochter eines Stasi-Agenten, und als Spitzensportlerin wurde sie ebenso als Staatseigentum betrachtet wie die Kinder der Führungskader.

In „Tochter des Diktators“ gibt es den ausgiebig recherchierten Realitätskern, aber der knebelt die Autorin nicht, noch schwadroniert sie über die Fakten hinweg. Bea Ulbricht, verheiratete und geschiedene Matteoli, die kurze Zeit auch den Ehenamen Polkownikowa trug, nähert sie sich mit größter Diskretion. Und dies in Gestalt der Rivalin, denn Anni, das zeigt sich nach einem etwas gewundenen Anfang, war die Kindheitsgefährtin und verfehlte Jugendliebe von Ivano Matteoli, der Ulbrichts Tochter beim Studium in Leningrad kennenlernte.

Der italienische Geliebte passt den Ulbrichts nicht. Dass er Sohn eines KP-Funktionärs ist, ändert daran nichts. Sie stören die Verbindung, schließlich erlauben sie die Heirat, aber nur unter der Bedingung, dass das Paar in Berlin lebt. Als Ivano dann doch nach Leningrad zurückkehrt, um eine Wohnung für die inzwischen dreiköpfige Familie zu suchen, wird Beates Reisepass eingezogen. Eine brutale Trennung, von der sie sich niemals erholt. Beate Matteoli beginnt zu trinken, verliert das Sorgerecht für die beiden Kinder, im Dezember 1991 stirbt sie im Alter von 47 Jahren in ihrer Berliner Wohnung, vermutlich wurde sie erschlagen.

Die extreme Linke verfällt dem Rausch der Gewalt

Virtuos verankert Ines Geipel diese Liebesgeschichte in den Zeitläuften. Die Kriegskinder werden aus den Utopien ihrer Eltern hinauskatapultiert, die extreme Linke verfällt dem Rausch der Gewalt. Anni erlebt den Mai 1968 in Paris als Straßenkampf der Künstler, Bea wird dem Plan unterworfen, bis sie schließlich zerbricht. Immer war sie eine Ortlose, Weitergereichte. Anni findet eine brillante Wendung für die Krankheit Depression: „Als würde sie am Meer leben, es aber nie bis zum Strand schaffen.“

Die lebensvolle, auch gewitzte Stimme der „Agnostikerin“ Anni Paoli, die allen Glaubenssystemen einschließlich des rustikalen Katholizismus ihres Dorfes mit Skepsis begegnet, bringt die Dinge schließlich erzählend in eine Ordnung. Sie ist es, die wissen und mitteilen will, was andere zu löschen versuchen. Genau das ist Ines Geipels Schreiben: der warme Blick einer Entkommenen auf die Untergegangenen.

Ines Geipel: Tochter des Diktators. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 198 Seiten, 20 €.

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