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Jeder Zug zählt. Ein Plakat von Gustav Kluzis von 1929 wirbt für den Fortschritt.

© Slg. Merrill C. Berman

Buch über russisches Eisenbahnwesen: Rollende Revolution

Lokomotive der Geschichte: Das Buch „Station Russia“ zur Architekturbiennale Venedig erzählt vom russischen Eisenbahnwesen.

Zu den interessantesten nationalen Beiträgen bei der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig zählt der russische (Giardini, bis 25. November). Dieses Mal gibt es sogar eine Korrespondenz zwischen dem Pavillongebäude im „altrussischen“ Stil, entworfen von Alexei Schtschussew 1914 – dem Jahr, in dem sein größter Bau, der Kasaner Bahnhof in Moskau, begonnen wurde –, und der Ausstellung selbst. Sie heißt „Station Russland“, handelt vom Eisenbahnwesen im russischen Riesenreich und wurde naheliegenderweise von den Russischen Staatsbahnen gesponsert. Mittlerweile ist das Begleitbuch erschienen, bei dem in Berlin ansässigen Verlag Hatje Cantz.

Das neuzeitliche Russland ist ohne Eisenbahn nicht zu denken. Es begann mit einer Ausflugslinie für den Zarenhof, von St. Petersburg zur Sommerresidenz Zarskoje Selo im Jahr 1837 und nach Pawlowsk ein Jahr darauf. Bahnfahren war zunächst nur ein Vergnügen für die alleroberste Schicht, der Bahnhof in Pawlowsk eher ein Vergnügungslokal für Bälle und Konzerte.

Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn – die nicht, wie manche glauben, eine Errungenschaft der frühen Sowjetmacht, sondern eine des späten Zarenreichs war – erschloss vor und im Ersten Weltkrieg den Osten des Riesenreiches bis zur Hafenstadt Wladiwostok („Beherrsche den Osten“). Die großen Bahnhöfe entstanden, von denen die Ausstellung in Venedig erzählt – die aber kein historischer Rückblick sein will, sondern ein Ausblick: auf das Potenzial, das die Eisenbahn in diesem Flächenstaat bietet.

Verschiedene historische Stränge kommen zur Wirkung

Ein wenig konnte der weltweite Fernsehzuschauer davon sehen, als er den zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi erbauten Bahnhof auf dem Bildschirm sah, entworfen von Studio 44 Architects und mit erkennbaren Anleihen bei der technizistischen Architektur Englands. Aber da steckt noch mehr im historischen Erbe, meinen die Staatsbahnen und lassen Visionen für die Überbauung des Komsomolzenplatzes in Moskau erträumen, um dessen riesige Asphaltfläche herum gleich drei Fernbahnhöfe (in drei verschiedenen Stilen!) konzentriert sind. Sollen da wirklich Hochhäuser die kecken Turmspitzen der Bahnhöfe überragen?

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Im Begleitbuch kommen die verschiedenen historischen Stränge – die Bahnhöfe, die handelnden Personen, das Drumherum des Bahnhofslebens – prägnanter zur Wirkung als in der Ausstellung in Venedig, die ein visuelles Feuerwerk ist, den mit den Örtlichkeiten insbesondere Moskaus nicht vertrauten Besucher allerdings eher verwirrt. Immerhin kann man in Venedig ein Sieben-Minuten-Video der Fahrt mit der „Transsib“ bewundern, das die in der Realwelt in sieben Tagen vorbeiziehende gleichförmige Landschaft zu charakteristischen Bildern verdichtet.

Die Sowjetunion verdankt sich letztlich dem Eisenbahnwesen

Das Begleitbuch kann dafür mit zahlreichen Aufnahmen der bedeutendsten Fotografen der Sowjetzeit aufwarten, von Alexander Rodtschenko bis Arkadij Schaichet. Die vom Kunsthistoriker Semyon Mikhailovsky erarbeitete Ausstellung ist ein brillantes Schauspiel, das Begleitbuch ein wahres Kompendium des russischen Eisenbahnwesens. Da folgen einander Nikolaus II. und Walter Benjamin, Mao Zedong und David Bowie: Sie alle hatten eine besondere Beziehung zur Eisenbahn. Vor allem Leo Trotzki, der den Kaiserlichen Sonderzug 1918 zu seinem rollenden Hauptquartier im Bürgerkrieg machte – und in seinen Erinnerungen stolz vermerkt, es habe im Zug alles gegeben, sogar eine banja, ein Dampfbad.

Wenn man bedenkt, dass Revolutionsführer Lenin mit dem Zug aus der Schweiz kommend in Petrograd eintraf und auch seine zwischenzeitliche Flucht vor der bürgerlichen Regierung per Eisenbahn erfolgte, ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass sich die Sowjetunion letztlich dem Eisenbahnwesen verdankt. Und dass Marx die berühmte Metapher geprägt hat, Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichte, sicherte der Eisenbahn einen prominenten Platz in der visuellen Propaganda des Sowjetregimes. Jedenfalls ist das zur Architekturbiennale Venedig erschienene Buch „Station Russia“ unentbehrlich, um das neuzeitliche Russland – jenseits seiner jeweiligen, sich wandelnden Staatsform – zumindest annähernd zu begreifen.

Semyon Mikhailovsky (ed.): Station Russia. Hatje Cantz, Berlin 2018. 464 S., 40 €.

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