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Rias Kammerchor Berlin: Eine Sensibilität, die unsensibel macht

Diese Programmänderung irritiert: Der Rias Kammerchor will aus Gründen der politischen Korrektheit nicht mehr Händels Oratorium „Israel in Egypt“ singen. Ein Widerspruch.

Ein Gastbeitrag von Matthias Loerbroks

Der Rias Kammerchor tritt stets am 1. Januar in Berlin auf
Der Rias Kammerchor tritt stets am 1. Januar in Berlin auf

© Matthias Heyde

Der Rias-Kammerchor hat das Programm für sein Berliner Neujahrskonzert geändert. Statt Händels Oratorium „Israel in Egypt“ soll es nun u.a. sein Utrechter Te Deum, Bachs Magnificat und eine Vertonung von Psalm 122 geben. Zur Begründung heißt es: „Im Oratorium ,Israel in Egypt’ gibt es eine einseitige und alles erobernde Macht.“ Das ist geheimnisvoll ausgedrückt, aber vermutlich ist mit jener Macht der Gott Israels, der Gott der Bibel gemeint. Denn das Oratorium – der Titel deutet es an – lobt und preist diesen Gott dafür, dass er sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat.

Dieses Exodus-Geschehen ist so etwas wie die Urgeschichte Israels, gehört zum Selbstverständnis des jüdischen Volks, wird jedes Jahr zu Pessach erinnert und gefeiert. Es ist die Geschichte, mit der der Gott Israels sich einen Namen gemacht, seinen Namen bewährt hat. Das Oratorium erzählt sie mit Worten aus dem biblischen Buch Exodus und aus dem Buch der Psalmen, vor allem Psalm 105. Auch im Schreiben des Chors heißt es – freilich mit hörbarer Distanz –, dass „diese Darstellung“, die dem Chor unbehaglich ist, „dem Alten Testament entstammt“. 

Gott ergreift Partei für die Sklaven

Nun ist nicht zu bestreiten, dass Gott in der Exodus-Geschichte einseitig vorgeht. Er versteht und betätigt sich nicht als Schlichter, der zwischen Unterdrückten und Unterdrückten vermittelt, sondern ergreift Partei für die Sklaven, presst sie frei, indem er den Sklavenhaltern Schläge (Plagen) zufügt und ihre Streitkräfte vernichtet. Doch kein Mensch, der Augen und Ohren hat, wird im Oratorium einen Anhaltspunkt dafür finden, dass es sich bei ihm um eine „alles erobernde Macht“ handelt, weil davon schlicht keine Rede ist. Dass der Chor – alle seine Mitglieder haben sehr gute Ohren – das dennoch gehört hat, ist höchst beunruhigend. 

Gegen das Ersatzprogramm ist nichts zu sagen. Psalm 122 enthält Aufforderungen und Vorsätze, die auch für Nichtjuden beherzigenswert sind: „Wünscht Jerusalems Frieden! Die dich lieben, seien im Frieden! Friede sei in deinen Mauern, Zufriedenheit in deinen Palästen! Um meiner Brüder, meiner Genossen willen will ich Frieden herbeireden für dich.“

Eine verstörende Entscheidung

Händels Utrechter Te Deum, seine Orgelkonzerte, sind große Musik. Beim Magnificat ist freilich fraglich, was der Chor durch diesen Ersatz gewonnen hat. In diesem Lied wird der Gott Israels dafür gepriesen, dass er mächtige Despoten vom Thron stürzt, Niedrige, Erniedrigte erhöht – für dieselben Taten also, die den Chor bei ,Israel in Egypt’ so gestört und verstört haben. Nicht das Ersatzprogramm ist ein Problem, verstörend ist vielmehr, dass der RIAS-Kammerchor der Meinung ist, in der jetzigen Situation sein geplantes und geprobtes Programm ersetzen zu sollen. 

Am 7. Oktober wurde Israel von einer Mörderbande überfallen. Viele Israelis wurden ermordet, gequält, verschleppt, viele sind bis heute gefangen, bangen um ihr Leben. Auch die Bewohner des Gaza-Streifens wurden zu Geiseln. Seit dem Ende der Schoa 1945 wurden an keinem anderen Tag so viele Juden an einem Tag ermordet: weil sie Juden waren. Und dieses Ende war nicht anders zu erreichen als durch den gewaltsamen Kampf der Alliierten: einseitige und – notgedrungen – alles erobernde Mächte. 

Ein christliches Gebet als Ersatz

In dieser Situation, in der Juden und Jüdinnen nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt schwer traumatisiert sind, sich bedroht und erneut alleingelassen fühlen, hat der RIAS-Kammerchor entschieden, ein grundlegendes Stück jüdischen Selbstverständnisses und jüdischer Hoffnung durch ein christliches Gebet zu ersetzen. Er setzt damit eine verheerende Tradition fort: jahrhundertelang haben christliche Kirchen gelehrt, das jüdische Volk sei nicht mehr Volk Gottes, sondern in dieser Rolle durch die Kirche ersetzt worden. Dass der Chor sich vermutlich nicht bewusst in diese Tradition stellt, sondern reflexhaft, also unreflektiert, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Weil es zeigt, wie ungebrochen wirksam diese Irrlehre ist. 

In der Begründung für die Programmänderung steht: „Fanatismus, Antisemitismus und Hass haben noch nie zu friedlichem Zusammenleben beigetragen.“ Das ist zum einen eine Banalität, zumal ja Fanatiker, Antisemiten und Hasser gar nicht beabsichtigen, zu friedlichem Zusammenleben beizutragen. Zum anderen aber überraschend, denn der Satz suggeriert ja, dass der Chor in Händels Oratorium Fanatismus, Antisemitismus und Hass entdeckt hat und nun dem entgegen an der „Hoffnung auf ein Miteinander geprägt von Respekt, Toleranz und gegenseitiger Achtung“ festhält. 

Der Rias-Kammerchor hat eine große Tradition, auch im Blick auf Biblisches und Jüdisches – erinnert sei an sein jahrelanges Konzertieren zusammen mit Estrongo Nachama, dem Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Durch die Programmänderung hat er dieser Tradition nicht entsprochen, sondern widersprochen.

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