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Konzertkritik: Port O’Brien: Auf Trübsal folgt Raserei

Die Band Port O’Brien trauert um den Bruder ihrer Sängerin und gibt ein ekstatisches Konzert in Berlin.

Das Leben geht weiter. Die Zeit heilt alle Wunden. Jeder kennt die Ratschläge, die in schweren Zeiten trösten sollen. Aber manchmal dauert es etwas länger, bis das Leben weitergeht. Beim Auftritt von Port O’Brien im gut besuchten Lido ist Cambria Goodwin nicht dabei. Die Open-Air-Festivals im Sommer hatte die Sängerin der kalifornischen Folkrock- Band noch mitgemacht, obwohl nur ein paar Monate zuvor ihr jüngerer Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Vielleicht war der Schmerz noch nicht richtig angekommen. Jetzt jedenfalls sei sie zu Hause, im Kreise ihrer Familie, sagt Van Pierszalowski, als er ihr das bedrückend intime „Tree Bones“ widmet. Die anrührende Liebesgeschichte der beiden war die Keimzelle von Port O’Brien.

Beide lebten damals in Alaska und Pierszalowski blieb im Sommer mit dem Fischerboot seines Vaters wochenlang auf See, während Cambria Goodwin an Land in einer Konservenfabrik arbeitete. In der knapp bemessenen gemeinsamen Zeit schrieben sie Lieder, die den Entbehrungen des Alltags eine wilde Lebenslust entgegensetzten. Und sie zugleich von ihnen befreiten: Das im vorigen Jahr erschienene Debütalbum „All We Could Do Was Sing“ wurde ein Überraschungserfolg und ermöglichte der zum Quintett erweiterten Band ausgedehnte Tourneen in ihrer Heimat und Europa. Nach dem Schicksalsschlag geriet die zweite Platte „Threadbare“ fast zwangsläufig zum trauerdurchfluteten Requiem.

Doch die vier aktiven Bandmitglieder fahren eine andere Bewältigungsstrategie. Am letzten Abend ihrer Konzertreise stürzen sie sich mit unglaublicher Energie in die Songs, wobei vor allem Pierszalowski nicht zu bremsen ist. Sein vom blonden Haarschopf halb verdecktes, jungenhaftes Gesicht wirkt schmerzverzerrt, wenn er mit vibrierender Stimme schwermütige Verse ausspuckt. Er schrappt entfesselt auf seiner akustischen Gitarre herum und steigert sich zu Irrläufen, bei denen man den gutmütigen Gitarristen Graham Lebron und den quirligen Bassisten Ryan Stively zu ihren instinktiven Ausweichmanövern beglückwünschen möchte. Immer wieder entert Pierszalowski das Schlagzeugpodest von Tyson Vogel, dessen krakenarmiges Geklöppel der Raserei am ehesten Paroli bietet.

Obwohl die Songs mit heftigerem Herzschlag pulsieren als die Studioversionen, vernachlässigen Port O’Brien nicht die Zwischentöne: Selbst ein Kracher wie „Close the Lid“, ähnlich ungestüm wie „It’s the End of the World As We Know It“ von R.E.M., überschreitet nicht die Grenze zur Grobheit, die diesen Feinmotorikern fremd ist. Rocken tun sie trotzdem. Angefeuert vom enthusiastischen Publikum, ziehen sie die Intensitätsschraube an und mischen die präzisen Arbeitsalltags- und Wetterbeobachtungen von „Fisherman’s Son“ oder „Stuck on a Boat“ mit sturmerprobtem Getöse auf. Zum Atemholen gibt es ein akustisches Intermezzo, als Pierszalowski mit den beiden Hippiemädchen der Vorband First Aid Kit das zum Weinen zärtliche „Will You Be There?“ singt: die bittersüße Elegie einer Liebe, die über die Schwelle des Todes hinausreicht.

Als Port O’Brien nach etwas über einer Stunde und dem von den hunderten Fans mitgesungenen „I Woke Up Today“ die Bühne räumen müssen, weil irgendeine Indierock-Tanzparty beginnen soll, gibt es ein gellendes Pfeifkonzert. Doch der gute Geist dieser Musik und das Wissen, dass die Band sich bis zur Erschöpfung verausgabt hat, versöhnen rasch mit dem unsensiblen Rauswurf. Wenn doch alles im Leben so einfach wäre.

Jörg W, er

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