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Eine von der Hautfarbe unabhängige "politische Gleichheit" ist laut Danielle Allen noch lange nicht verwirklicht.

© Kristin Murphy / dpa

Politische Philosophie: Das Ureigene und das Gemeinsame

Die amerikanische Philosophin Danielle Allen legt ein Plädoyer für „Politische Gleichheit“ vor - und gegen den Meisterdenker des Liberalismus, John Rawls.

Das Standardwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (A Theory of Justice) des 2002 verstorbenen Harvard-Philosophen John Rawls begründete in den 1970er Jahren die moderne Variante der politischen Philosophie. Wer sich im Anschluss an Rawls’ Projekt eines egalitären Liberalismus über den idealen Rahmen gerechter Gesellschaften ausließ, konnte mit ihm oder gegen ihn, in der Regel aber nicht ohne ihn denken.

Bis heute hat sich hieran wenig geändert. Einer der jüngsten Versuche, aus dem Schatten des Altvaters hervorzutreten, stammt von der ebenfalls in Harvard lehrenden Philosophin und Politikwissenschaftlerin Danielle Allen.

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Im Jahr 2017 hielt die US-Amerikanerin die vom Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Suhrkamp Verlag alljährlich organisierten Adorno-Vorlesungen über „Politische Gleichheit“. Allen, die für ihr bisheriges Werk gerade mit dem diesjährigen John W. Kluge Prize for Achievement in the Study of Humanity der Library of Congress ausgezeichnet wurde, versteht ihren Ansatz als kritische Ergänzung zu dem von Rawls entwickelten, berühmt-berüchtigten „Differenzprinzip“.

Wie viel Ungleichheit lässt sich legitimieren?

Mit diesem versuchte der Denker seinerzeit auszuloten, wie viel Ungleichheit in einer Gesellschaft aus Trägerinnen und Trägern gleicher Grundfreiheiten normativ legitimiert werden kann. Seine Antwort: Ein sozioökonomisches Gefälle ist bloß dort gerechtfertigt, wo es auch und vor allem den Schwächsten der Gesellschaft zum relativen Vorteil gereicht.

Nicht von ungefähr wurde die vor allem in den USA bis heute wirkmächtige Theorie von John Rawls auch als ideologisches Trittbrett eines (neo-)liberalen Kapitalismus verstanden. Die irrige Vorstellung vom „Trickle Down“ – vom in den oberen Etagen akkumulierten Kapital, das wie ein warmer Sprühregen auch irgendwann das Erdgeschoss erreicht – ließ sich mit Rawls philosophisch beglaubigen. Danielle Allen versucht nun das komplexe Verhältnis von Freiheit und Gleichheit auf neue Weise auszutarieren. Das „Differenzprinzip“ will sie durch ein besseres Modell der „Differenz ohne Herrschaft“ ersetzen.

Der Ausgangspunkt ihrer Kritik ist die Feststellung, dass Rawls mit seinem Gedankenexperiment vom „Schleier des Nichtwissens“, in dem die Menschen ohne Kenntnis ihrer späteren gesellschaftlichen Position über einen Katalog irreduzibler Grundfreiheiten befinden, zwar der persönlichen Autonomie und den „negativen Freiheiten“, nicht aber der kollektiven Autonomie und den „positiven Freiheiten“ das Wort redet.

Persönliche Autonomie stößt an gesellschaftliche Grenzen

Wie es der Titel ihres Buches ankündigt, steht die angeblich von Rawls zugunsten einer Verbindung aus individuellen Freiheitsrechten und nachgelagerter Distribution übergangene „Politische Gleichheit“ im Mittelpunkt ihres Denkens. Persönliche Autonomie stoße notwendig an gesellschaftliche Grenzen, die wahre Freiheit liege darin begründet, an der Ziehung dieser Grenzen beteiligt zu sein:

„Wir alle leben unter einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Zwängen. Die einzige Möglichkeit, vollständig autonom zu sein, besteht im Grunde darin, diese sozialen Zwänge sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht mitzugestalten.“ Lege man den Fokus zu sehr auf die ökonomischen Freiheitsrechte des Einzelnen und vernachlässige das urdemokratische Recht auf gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens, verkomme die Freiheit zur Freiheit der Wenigen – gegen die Freiheit der Vielen.

Schrieb mit "Cuz" auch ein wütendes Memoir über die Gefängniskarriere ihres Cousins Michael A. Danielle Allen.
Schrieb mit "Cuz" auch ein wütendes Memoir über die Gefängniskarriere ihres Cousins Michael A. Danielle Allen.

© Laura Rose

Wie aber wird „politische Gleichheit“ von Allen im Einzelnen ausbuchstabiert? Die fünf Facetten ihres radikaldemokratischen Ermächtigungskonzepts sind Nicht-Beherrschung, ein gleichberechtigter Zugang zum Regierungsapparat, ein epistemischer Egalitarismus, Gegenseitigkeit im Sinne eines Rechts auf Wiedergutmachung und eine Eigentümerschaft des Demos an den politischen Institutionen.

Paukenschlag oder harmlose Bullet Points?

Für US-Amerikaner mag sich das - zumal kurz vor einer möglichen Wiederwahl des Demokratieverächters Donald Trump - wie ein revolutionärer Paukenschlag anhören. Für europäische Ohren klingt diese Auflistung mehr wie die Bullet Points eines sozialdemokratischen Grundsatzprogramms.

Allens Problem ist, dass sie im ostentativen Bemühen, den großen idealtheoretischen Wurf zu landen, inhaltlich im Ungefähren bleibt. Wenn sie etwa eine Egalisierung des Bildungssystems, eine allgemeine Krankenversicherung und soziale Reformen des Wohnungsmarktes anrät, mag man ihr unbedingt zustimmen – hat aber zugleich das Gefühl, dass sie über Gemeinplätze selten hinauskommt. In markigen Begriffen stellt die Philosophin Konzepte vor, die ihrer Vorstellung von Gleichheit den Boden bereiten sollen. Neben der besagten „Differenz ohne Herrschaft“ sind das eine „vernetzte Gesellschaft“, „ökonomische Ermächtigung“ und ein „Polypolytanismus“.

Allen räumt ein, dass die in demokratischen Gesellschaften notwendige Wahrung des Prinzips der persönlichen Autonomie starke Differenzen kultiviert. Diese aber sollten sich möglichst nicht zu Herrschaftsformen verdichten. Den Beweis jedoch, wie es sich verhindern lässt, dass soziale, ökonomische, kulturelle und symbolische Hierarchien in ein gesellschaftliches Kastensystem münden, bleibt Allen weitgehend schuldig.

Brückenbau zwischen verschiedenen Milieus

Hinter dem von ihrem Kollegen Michael Walzer in seinem 1983 vorgelegten Werk „Sphären der Gerechtigkeit“ (Spheres of Justice) ausgearbeiteten Modell einer „komplexen Gleichheit“ etwa bleibt Allen philosophisch zurück.

Das Konzept einer „vernetzten Gesellschaft“, mit dem sie – über Institutionen wie Schule oder Sportverein – den Brückenbau zwischen verschiedenen soziokulturellen Milieus empfiehlt, erscheint als leidenschaftliches Plädoyer für die fluide Gestalt des Demos und gegen kommunitaristische Kulturessenzialismen.

Auch hier aber gibt es nur wenig Konkretes. Gleiches gilt für ihr Programm einer ökonomischen Ermächtigung. Viel mehr als die Forderung nach einer stärkeren Kontrolle der Wirtschaft durch die Bevölkerung und die Hoffnung auf einen Stakeholder- anstelle eines Shareholder-Kapitalismus bietet die Denkerin nicht auf. Die tiefenstrukturellen Widersprüche des kapitalistischen Systems zum Beispiel werden von Allen nicht angegangen.

Danielle Allen fordert unter anderem eine volle politische Teilhabe für Geflüchtete und Arbeitsmigrantinnen.
Danielle Allen fordert unter anderem eine volle politische Teilhabe für Geflüchtete und Arbeitsmigrantinnen.

© picture alliance / dpa

Mit dem Begriff des Polypolytanismus versucht die Philosophin schließlich dem vor allem durch die globale Migration aufgekommenen Umstand zu begegnen, dass Personen gleichzeitig mehreren politischen Gemeinwesen angehören können. Mit Hannah Arendt als impliziter Gewährsfrau fordert sie ein Recht auf Rechte ein, prangert das Fehlen politischer Rechte von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen an.

Man kann Rawls auch anders lesen

Allein das demokratische Defizit, das notwendig entsteht, wenn Menschen Gesetzen unterworfen sind, über deren Gestalt sie nicht mitentschieden haben, wurde in der migrationsethischen Debatte seit den 1980er Jahren von politischen Philosophen wie Michael Walzer und Joseph Carens bereits umfänglich diskutiert.

Dabei hat sich Letzterer in einer Ausweitung des Rawls’schen Gedankenexperiments vom „Schleier des Nichtwissens“ auf die globale Ebene für transnationale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und die Möglichkeit politischer Teilhabe in dem von der Migrantin favorisierten Gemeinwesen ausgesprochen. So kann man Rawls auch anders lesen, als Danielle Allen es tut.

Ihr Buch über „Politische Gleichheit“ ist ein leidenschaftlicher, wenn auch etwas hölzern formulierter Appell für die Notwendigkeit der demokratischen Lebensweise. So erklärt sie im Schlusskapitel, sie würde lieber in einer echten Demokratie Hunger leiden als in einem autokratischen System zu essen haben –zumal die „Demokratie ohne Lebensmittel“ historisch betrachtet eine Nullmenge sei.

Denn Demokratien, so Allen, seien immer fähig zur Kurskorrektur. Angesichts dessen, dass die Herrschaft des Volkes aktuell nicht nur in den USA durch Lobbyinteressen und strukturellen Rassismus unterhöhlt wird, bezeichnet ihre Forderung nach von Herkunft, Hautfarbe und sozialem Status unabhängiger Partizipation das richtige Anliegen zur richtigen Zeit. Ein Meilenstein der Politischen Philosophie ist Danielle Allen aber nicht gelungen.

Danielle Allen: Politische Gleichheit. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017. Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2020. 240 Seiten, 28 €.

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