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Fortissimo. Chefdirigent Vladimir Jurowski gibt die Sporen.

©  Mike Wolff

Polarisierendes „Dornröschen“: Vladimir Jurowski geht keine Kompromisse ein

Wider den Stachel: Entschlossen präsentiert RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski Tschaikowskys „Dornröschen“-Ballettkomposition als Meisterwerk absoluter Musik.

Neid und Missgunst sind überaus hinderliche Charakterzüge, die ganze Gesellschaften, wenn nicht auf der Stelle umbringen, so doch zumindest in einen tiefen Schlaf fallen lassen können. „Dornröschen“, die 1890 in St. Petersburg uraufgeführte Ballett-Ikone von Marius Petipa und Pjotr Tschaikowsky, ist gar nicht so weltfern, wie man vielleicht denken mag.

Dass das Werk nicht nur in eine Märchenwelt entführt, sondern auch heute noch zu polarisieren vermag, musste jüngst das Rundfunk-Sinfonieorchester (RSB) unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski erleben. Im Vorfeld des Berliner Weihnachtskonzerts war man mit „Dornröschen“ auf Kurztrip, der auch nach München führte.

Dort wird Jurowski ab Herbst 2021 als Nachfolger von Kirill Petrenko Generalmusikdirektor der Bayrischen Staatsoper. Damit avancierte das RSB-Gastspiel zum Pflichttermin für die Münchner Kritikerkollegen. Die „SZ“ zählte erst einmal die Pulthelden des vergangenen Jahrhunderts herunter, ein volles Dutzend, deren gewaltige Fußstapfen Jurowski hoffentlich irgendwann ausfüllen könne.

Angesichts seiner eindrucksvollen künstlerischen Expertise kann man diese Text-Eröffnung getrost missgünstig nennen. Und es kommt noch dicker: Das RSB wird alsbald als Rumpeltruppe mit mangelhafter „musikantischer Grundhaltung“ enttarnt, die dem Bayerischen Staatsorchester nicht das Leitungswasser reichen kann.

Im Zweifelsfall also ist das Orchester schuld am angeblich missglückten „Dornröschen“, denn das bleibt ja in Berlin, während der Dirigent demnächst in München zu wahrer Größe findet.

Der Dirigent denkt bewusst die Anforderungen des Tanzes nicht mit

Nun ist die Vorweihnachtszeit an Wirrnissen reich, doch bei dieser hochmütigen Isar-Saga bleibt einem der Mund offen stehen. Es gibt nur wenige Dirigenten, die deutlicher machen können, was sie wollen, als Vladimir Jurowski. Und sein „Dornröschen“ gibt eine klare Vorstellung davon, wofür dieser Musiker steht.

In der Philharmonie spielt das RSB dann tatsächlich jede Note der Partitur wie vor zwei Jahren schon beim „Nussknacker“. Es wird ein langer Abend mit zwei Pausen und leichtem Publikumsschwund, obwohl Jurowski dem Orchester die Sporen gibt und seine straffen Tempi viele Ballett-Compagnien vor unlösbare Aufgaben stellen würden.

Der Dirigent denkt bewusst die Anforderungen des Tanzes nicht mit, blendet ein beständiges Nachfedern aus, das „Dornröschen“-Dirigate beim Ballett oft so unattraktiv seifig werden lässt.

Klarheit und auch ein gewisser Härtegrad bestimmen den Grundton, die oft beschriebene Nähe Tschaikowskys zum Französischen, zum Parfum, spielt hier kaum eine Rolle. Neid und Missgunst werden so nicht Bestandteile eines ästhetischen Spiels, Jurowski zeigt hier fortissimo ganz klar Kante.

Das ist beeindruckend in seiner Entschlossenheit, Tschaikowskys Ballettschaffen als Meisterwerk absoluter Musik zu präsentieren und dabei keinerlei Kompromisse einzugehen. Zugleich findet sich der „Dornröschen“-Melodienzauber von allerlei Stacheln umgeben.

Erst im 3. Akt, wo sich nach dem eigentlichen Drama die Bravourstücke aneinanderreihen, lässt Jurowski die Zügel lockerer und entdeckt so den Zauber eines minimalen laissez faire. München kann sich schon mal warm anziehen.

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