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Leeres Haus: Simon Rattle dirigierte am Donnerstag unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Philharmonie.

© Mike Wolff

Philharmonie nach Corona-Absage: Wohnzimmer-Konzert mit Simon Rattle

Die Berliner Philharmoniker spielen am Donnerstag gegen die expressionistische Leere der Architektur an.

Ihr Haus ist geschlossen, doch die spielen am Donnerstagabend trotzdem, zumindest dieses eine Mal. Simon Rattle hat das aktuelle Konzertprogramm mit seinen ehemaligen Musikerinnen und Musikern bereits fertig geprobt, zudem verfügt das Orchester über einen Kanal, um seine Aufführungen mit der Welt zu teilen. Die Digital Concert Hall liefert Bild und Ton von großer Qualität, abspielbar quasi auf jedem Endgerät. Der Zugang wird diesmal kostenfrei gewährt, was aber nicht heißt, dass man sich nicht vorab registrieren lassen muss. Man kann also auch digital zu spät ins Konzert kommen, wenn man den technischen Vorlauf nicht einkalkuliert. Immerhin stören Nachzügler die Aufführung nicht, sie klinken sich einfach ein in den Datenstrom.

Die menschenleeren Saalterrassen lassen die Philharmonie weit expressionistischer als gewohnt erscheinen, die Kameratotale bietet bizarre Ausblicke. Zum Glück bringt Luciano Berios lebenspralle Sinfonia für acht Stimmen und Orchester kaum zu überblickende Musikebenen zum Schwingen, zitiert und collagiert beherzt gegen den Eindruck der Leere an. Hinter ihren Mikrofonen hauchen, girren und jubilieren die Neuen Vocalsolisten Stuttgart Anthropologisches, Existenzialistisches, Sybillinisches oder schlicht „Thank you, Mr Simon Rattle“. Durch die Mitte der Musik strömt mächtig der 3. Satz von Mahlers Auferstehungs-Symphonie, umspielt von Erinnerungen und Eruptionen.

Leidenschaft im düsteren Kern der Musik

Wie fein das Programm mit dem folgenden Konzert für Orchester von Béla Bártok austariert ist, unterstreicht Rattle in seiner Pausenansprache, in der er wie nebenbei erwähnt, dass der kranke Komponist im US-Exil sein Werk ohne die Erfindung des Penicillin niemals hätte schreiben können.

Leidenschaftlich weist der ehemalige Philharmoniker-Chef auf den düsteren Kern der Musik hin, der auch die Hoffnung umschließt, nicht vergessen zu werden. Hoffentlich finden Musik und Liebe hinaus in die reale Welt da draußen, schließt Rattle seinen Kommentar. Und plötzlich fühlen wir uns als Zuhörer wirklich vermisst – und erinnern uns beim unbeholfenen Verbeugen ganz zum Schluss, ohne jeden Applaus, dass Konzerte mehr sind als bloß repetierte Rituale.

Glühend ist die Bártok-Interpretation, virtuos und tief, voller Anspielung auf Werke, die man eigentlich kennen müsste. Konzentration, kein Lächeln. Nach dem letzten Ton ist die Philharmonie wirklich verwaist. Wie die Philharmoniker ihre Technikzentrale während der Schließzeit weiter einsetzen können, wird übers Wochenende beraten. Simon Rattle hat einmal treffend gesagt: Das Leben ist keine Generalprobe.
Wiederholung: Samstag, 19 Uhr, in der Digital Concert Hall

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