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Unsere Mütter, unsere Väter. Ein Fronturlauber der Deutschen Wehrmacht trägt sein Kind über den Weihnachtsmarkt - im Berliner Lustgarten im Winter 1942.

© picture alliance/Fotoarchiv für Zeitgeschichte/Archiv

Paul Brodowskys Roman „Väter“ : Hinter der Wutmaske

Entwaffnend ehrliche Prosa. Paul Brodowskys Roman „Väter“ ist eine Meditation über Vaterschaft und transgenerationale Prägungen.

Was bedeutet es heute, Vater zu sein? Auf jeden Fall anders zu sein als der Vater, den man selbst in seiner Kindheit erlebt hat. Das ist die Erfahrung, die in dieser Büchersaison gleich zwei Romanautoren in ihren literarischen Autofiktionen umtreibt, neben André Hille in „Jahreszeit der Steine“ auch den 43-jährigen Berliner Autor Paul Brodowsky, der seit seinem eindrucksvoll-ambitionierten Erzählband „Die blinde Fotografin“ von 2007 hauptsächlich als Theaterautor in Erscheinung getreten ist und sich jetzt einen ambitionierten Roman vorlegt.

Vater sein ist eine Geduldsprüfung

Was dieses Anderssein als Vater in der Praxis heißt, machen in Brodowskys Roman immer neue Nahaufnahmen aus dem Alltag einer jungen Familie deutlich: Vater sein heute ist demnach vor allem eine tägliche Geduldsprüfung, eine Zen-ähnliche Übung in Emotionskontrolle. Schließlich will man ein progressiver, sensibler Vater sein, der die Care-Arbeit nicht der Frau allein überlässt.

Immer wieder protokolliert der Ich-Erzähler, der sich mit dem Verfasser Namen und Vita teilt, seitenlang minutiös das stressige Familienleben: etwa das morgendliche Wecken der Kinder, Bad, Frühstück und Anziehen, alles so unter Zeitdruck, dass mitunter nicht mal Zeit fürs eigene Zähneputzen bleibt.

Ein blockierendes Fahrradschloss auf dem Weg zur Kita durch den Berliner Großstadtverkehr kann da leicht das Fass zum Überlaufen bringen. Schließlich geht jede Verspätung auf Kosten des ohnehin immer zu kleinen Zeitfensters fürs eigene Schreiben. Vermutlich hätte hier jeder an Pauls Stelle mit einem kleinen Wutanfall zu kämpfen. Doch in Pauls Fall, aufgrund seiner Familiengeschichte, führt jede aufkommende Aggression eben immer auch zur bangen Frage, ob er am Ende nicht doch wie „er“ sein könnte, der eigene Vater, das „Anti-Vorbild“.

Brodowskys Vater war ein renommierter Naturwissenschaftler, der seinen Kindern Anerkennung nur für Leistungen gewähren wollte. Immer wieder brachen sich bei diesem Patriarchen unterdrückte Emotionen ihre Bahn: Wenn der Vater seine „Wutmaske“ aufsetzte, erinnert sich der Ich-Erzähler, sprachen die verängstigten Geschwister davon, er würde wieder „Schafe schlachten“. Paul Brodowskys Roman „Väter“ setzt somit auch jenen Strang der deutschen Literatur fort, die von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater erzählt, meist mit Blick auf deren Leben und Handeln im Dritten Reich.

Wie zuletzt in Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ hat auch Brodowskys Vater die NS-Zeit als Kind erlebt: Als Zehnjähriger besuchte Brodowsky senior eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“, also Kaderschmiede der Nazis; als Erwachsener vermittelte er seinen acht Kindern – schon die Großfamilie galt ihm als Manifestation der eigenen Lebenskraft – Vertreter einer geistigen Elite zu sein. Sein „Familiendogma des Brodowsky-Exzeptionalismus“ bzw. der „Brodowsky-Supremacy“, ein an seinen Nachwuchs weitergegebenes Überlegenheitsgefühl, sollte sich gerade für die literarische Karriere seines Sohnes als schwere Hypothek erweisen, wie der Autor heute glaubt.

Wimmelbild auf 300 Seiten

Ein „Roman“ ist „Väter“, dessen sisyphushafte Entstehung immer wieder Teil der Geschichte ist, freilich nur in einem sehr weiten Sinn. Wimmelbild auf 300 Seiten träfe es eher.

Der Ich-Erzähler selbst spricht von einer „ausufernden Kartierung meiner inneren Topografie“: „Eigentlich möchte ich wissen, was für Prägungen mein Vater als Kind bekommt, welche Traumata er erfährt, um für das Buchprojekt, an dem ich arbeite, zusammenzutragen, wie ich selbst durch diese Traumata geprägt bin, auch wenn ich ihm das so nicht sage. Zudem ist die Erforschung dieses Herkommens, dieses dunklen inneren Kontinents eines familiären kollektiven Bewusstseins für mich selbst noch Neuland, ich muss mich in diesem Terrain erst noch orientieren, gefühlt halb unter Wasser, ich sammle, symptomatisiere innerlich, noch ohne ganz klares Ziel“.

Klaus Theweleits „Männerphantasien“

Zu dieser Symptomsammlung gehören im bunten Wechsel: immer neue Ausflüge in die Labyrinthe der Erinnerung mit einer Schulzeit und Pubertät in der gehobenen Mittelschicht in Norddeutschland, Meditationen über Lektüreeindrücke, etwa von Klaus Theweleits „Männerphantasien“ mit seinen Härteidealen des „soldatischen Mannes“, Fluchtversuche aus dem Familienalltag in Form von Drogeneskapaden oder das rauschhafte Mitmischen bei Politdebatten auf Twitter, Konflikte mit den Schwiegereltern, die für einen konsequenteren Erziehungsstil plädieren, gelegentliche Klapse auf den Hintern inklusive; Reflexionen über die „Erinnerungspolitik des Unterbewusstseins“, durch Flattersatz formal abgegrenzte Traumprotokolle oder sebaldeske Abbildungen von Dokumenten, deren Authentizität nicht immer klar ist.

Vor allem aber gehören dazu die Befragungen des längst vom Alter gezeichneten Vaters nach seinen Kindheitserinnerungen im ehemaligen Ostpreußen: nach dem Großvater, einem im Krieg gestorbenen Metzger, oder nach dem unheimlichen Großonkel, seinerzeit Kreisgeschäftsführer der NSDAP. Dass dieser Großonkel ebenfalls Paul heißt, hat für den Ich-Erzähler eine unheimliche, zeichenhafte Bedeutung, und die Frage, wie genau die beiden am Holocaust beteiligt waren, lässt ihn im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde recherchieren.

Auch deshalb, weil der Vater im Alter plötzlich behauptet, im Familienstammbaum habe es auch eine jüdische Großmutter gegeben. Womit plötzlich die für den Ich-Erzähler höchst irritierende Möglichkeit, sich familiengeschichtlich nicht nur auf der Täter-, sondern auch auf der Opferseite verorten zu können, im Raum steht. Paul Brodowskys Meditation über Vaterschaft und Mannsein heute, transgenerationale Prägungen und das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart ist ein entwaffnend ehrliches, hochambitioniertes, formal alle Grenzen und Kategorien bewusst überschreitendes Prosawerk. Das macht auch seine Lektüre zu einer Geduldsprüfung – aber einer lohnenden.

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