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Sandra (Sandra Hüller) auf der Anklagebank. Die Schriftstellerin wird verdächtigt, ihren Ehemann umgebracht zu haben.

© dpa/Plaion Pictures/Uncredited

„Anatomie eines Falls“ im Kino: Paraderolle für eine bravouröse Sandra Hüller

Die französische Regisseurin Justine Triet verbindet in „Anatomie eines Falls“ auf so kluge wie virtuose Weise Familien- und Gerichtsdrama. Dafür gab es in Cannes die Goldene Palme.

Von Andreas Busche

Die Spurensicherung steht am Anfang jeder polizeilichen Ermittlung. Die Stichhaltigkeit der Spuren entscheidet darüber, ob diese am Ende des Verfahrens, vor Gericht also, zu einem eindeutigen Urteil – Schuld oder Freispruch – führen.

Im Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet („Sibyl - Therapie zwecklos“), das gleich zweierlei Schuldfragen behandelt, wird ein ganzes Arsenal an Spuren von unterschiedlicher Beweiskraft aufgeboten, weil die einzigen Zeugen eines vermeintlichen Verbrechens, die verdächtige Ehefrau und der halb erblindete elfjährige Sohn des Verstorbenen, nur bedingt zuverlässig sind. Darum muss die Anklage erfinderisch argumentieren.

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Stichhaltig im Sinne wissenschaftlich-forensischer Arbeit sind lediglich ein Schlag auf den Kopf und Blutspritzer ein paar Meter unterhalb des Balkons, von dem das Opfer stürzte. Bleibt die Frage, was zuerst kam: Sturz oder Schlag? Die übrigen Indizien, die der Staatsanwalt vor Gericht anführt, sind popkulturell betrachtet so aufschlussreich wie kurios.

Da ist einerseits der frauenfeindliche Rap-Hit „P.I.M.P.“ von 50 Cent, der am Nachmittag des tödlichen Sturzes durch das Chalet des Schriftsteller-Ehepaares Voyter dröhnte. Außerdem ein Exemplar des metafiktionalen Erfolgsromans von Sandra (mit kühler Frontalverteidigungshaltung von einer bravourösen Sandra Hüller gespielt), dessen verräterische Passagen die Geschworenen von der Täterschaft der Ehefrau überzeugen sollen.

Die literarischen Karrieren von Sandra und Samuel (Samuel Theis) hatten sich in den letzten Jahren in unterschiedliche Richtungen entwickelt – wie sich das Paar auch in der Ehe nach dem Unfall des damals vierjährigen Daniel (Milo Machado Graner) auseinander gelebt hat. Liegt da schon das Tatmotiv?

Literarische Spurensuche

Die Autofiktion als Dokument von Echtheit und Zeugenschaft: Das ist selbst eine schöne Fiktion, die sich im Literaturbetrieb in den vergangenen Jahren wieder größter Beliebtheit erfreut. Weil das literarische Genre der Autofiktion selbst zur Spurensuche einlädt: Welches erzählerische Detail verweist auf die Autorin, den Autor? Wo endet die Biografie, wo beginnt die Erfindung?

Um diese Frage dreht sich gleich die Eröffnungsszene von „Anatomie eines Falls“, in der eine junge Literaturstudentin Sandra über die Rolle von autobiografischen Elementen beim Schreiben interviewt. Das Gespräch bei einem Glas Wein verlässt nie die, auf Seiten der Erfolgsautorin, leicht amüsierte Ebene eines flirthaften Katz-und-Maus-Spiels zwischen Vermutungen und Andeutungen.

Es greift damit in gewisser Weise schon der späteren, diesmal rigorosen Befragung durch den Staatsanwalt (Antoine Reinartz) voraus. Das Interview endet jedoch abrupt, weil Samuel – trotzig, eifersüchtig oder genervt? – in der oberen Etage des Chalets 50 Cent voll aufdreht. Eine Stunde später liegt er tot im Schnee.

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Um den Wahrheitsgehalt der Autofiktion dreht sich – das ist die so klug ausgespielte wie genüsslich-frivole Prämisse – Triets als Gerichtsfilm getarntes Familiendrama: in vielen, immer wieder überraschenden Volten und Schattierungen. Die Schuldfrage der Tat, so das Argument der Anklage, lässt sich nur ermitteln, wenn im Zuge der Beweisführung auch der oder die Schuldige für eine langsam zerbröckelnde Ehe ermittelt werden kann. Eine Antwort soll dann unter anderem die Literatur geben.

Dass der Wahrheit immer eine Spur Fiktion innewohnt, muss auch Daniel lernen, der sich nur auf seinen Hör- und Tastsinn verlassen kann – welche sich ebenfalls früh als trügerisch erweisen. Der Elfjährige hat, wie das Publikum, kein primär kriminalistisches Interesse an dem Fall. Er besteht darauf, an dem Prozess teilzunehmen, um die Wahrheit über seine Eltern zu erfahren. Der unvorstellbare Verdacht: Hat seine Mutter den Vater umgebracht?

Goldene Palme in Cannes

„Anatomie eines Falls“ ist ein Film der Worte, der gesprochenen wie geschriebenen. Doch die Sprache ist nicht das zentrale Medium, in dem sich bei Triet und ihrem Ko-Autor Arthur Harari ein Urteil (über eine Tat, einen Menschen) artikuliert. Die französische Regisseurin, die für ihren Film im Mai auf dem Cannes Filmfestival mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, stellt in der Konvention des Gerichtsdramas – darin weist ihr Film auf prozessualer Ebene große Ähnlichkeiten mit dem Spielfilmdebüt „Saint Omer“ ihrer Kollegin Alice Diop auf –, verschiedene Sprechakte einander gegenüber.

Dass sich autobiografische und forensische Spuren immer wieder überschneiden, stellt die Argumentation der Staatsanwaltschaft auf wackelige Füße. Die Dramaturgie von „Anatomie eines Falls“, gestützt auf solcherart unzuverlässige Dokumente und Aussagen – sowie auf eine Hauptverdächtige, die es nie darauf anlegt, vor Gericht besonders sympathisch zu wirken –, steigt auf diese Weise aber in eine immer kompliziertere Ehegeschichte ein.

Spuren eines Mordes? Sandra (Sandra Hüller) und ihr Sohn Daniel (Milo Machado Graner) finden die Leiche Samuels (Samuel Theis).
Spuren eines Mordes? Sandra (Sandra Hüller) und ihr Sohn Daniel (Milo Machado Graner) finden die Leiche Samuels (Samuel Theis).

© Les Films Pelleas/Les Films De Pierre

Einzelne Momente können hier je nach Kontext (beziehungsweise: aus eben jenem gerissen) eine erdrückende Beweislast entwickeln. Für Nicht-Juristen hingegen, die in zwischenmenschlichen Konflikten nicht nach einer Schuldfrage suchen (müssen), spielen sich in „Anatomie eines Falls“ lediglich ganz alltägliche Szenen einer Ehe ab.

Sandra Hüller lächelt – nicht

Einmal entlarvt sich der Modus des Sprechens, auf den sich auch die Anklage stützt, als besonders zweifelhaft. Den heimlichen Audio-Mitschnitt eines Streits zwischen Sandra und Samuel – Material für seinen nächsten (autofiktionalen) Roman – überführt Triet vom rein Akustischen in eine lange Spielfilmsequenz. Nicht nur, dass das Sammeln von authentischen biografischen Fragmenten (und damit „objektiven“ Tatbeständen) in der Performance wieder nur eine neue Erzählebene mit gehörigem Interpretationsspielraum eröffnet.

Daniel (Milo Machado Graner) hat den Vater verloren – und vielleicht auch seine Mutter.
Daniel (Milo Machado Graner) hat den Vater verloren – und vielleicht auch seine Mutter.

© Les Films Pelleas/Les Films De Pierre

Wenn die passive Körpersprache des larmoyanten Samuel, der im Streit die Schuld für die Sackgasse in seinem Leben allein bei seiner Partnerin sucht, auf die passive Aggressivität der schnippischen (und vermeintlich empathielosen) Sandra trifft, geht es weniger darum, welche Argumente den einen oder anderen Ehepartner glaubwürdiger – oder sympathischer – erscheinen lassen. Sondern, von wem sich das Publikum lieber emotional manipulieren lassen möchte.

Mit anderen Worten: Würde Sandra wenigstens manchmal lächeln, wäre das Urteil über sie auch nicht so leichtfertig gefällt. Triet ist subtil genug, diesen Sexismus der Wahrnehmung unausgesprochen im Raum stehen zu lassen. (Schon dass die Deutsche gezwungen wird, vor Gericht auf Französisch zu antworten, offenbart einen den Chauvinismus.)

Dass Sandras emotionale Distanziertheit auch davon herrühren kann, dass sie nicht einmal die Zeit hatte zu trauern, bevor sie schon auf der Anklagebank sitzt – ihr Anwalt (Swann Arlaud) plädiert auf Suizid als Verteidigungsstrategie –, kommt in den Betrachtungen des Staatsanwalts schlichtweg nicht vor. „Ich verwische die Spuren, damit die Fiktion die Realität zerstört“, erklärt Sandra vor Gericht einmal ihre Arbeitsweise.

„Anatomie eines Falls“ führt vor, wie unmöglich es ist, die Realität anhand von Fiktionen zu rekonstruieren. Der letzte große, wirklich bewegende Auftritt allerdings gehört Daniel, der erfahren muss, dass die Wahrheit auch schmerzen kann. Doch für diese Urteilsfindung ist kein Gericht zuständig.

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