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Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, 61

© Lukasz Giza/Kampa

Olga Tokarczuks Roman „Empusion“: Unter der Strahlendusche

Die polnische Literaturnobelpreisträgerin antwortet mit ihrem neuen Buch auf Thomas Manns „Zauberberg“ – und konterkariert erfolgreich diesen Klassiker.

Das Angenehme an Anstaltsromanen ist, dass man während der Lektüre gedanklich in sie einziehen kann. Das gilt für das Institut Benjamenta in Robert Walsers „Jakob von Gunten“, wo angehende Dienstboten zur „reizenden, kugelrunden Null“ geformt werden, oder Heilstätten-Romane wie „Vernarbte Herzen“ von M. Blecher und „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.

Ein wenig „Furcht vor schreckhaften Eindrücken“ verspürt Manns Protagonist Hans Castorp, als er im Davoser Sanatorium für Lungenkranke zum ersten Frühstück erscheint. Ähnlich ergeht es dem feinsinnigen Mieczysław Wojnicz in Olga Tokarczuks neuem Roman „Empusion“, einer Wortschöpfung aus Symposion und Empusa, einer weiblichen Schreckensgestalt der griechischen Mythologie.

Der Text bezieht sich genüsslich auf den ebenfalls am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelten „Zauberberg“, um ihn zu konterkarieren. Im Herbst 1913 reist der lungenkranke Student der „Canalisationsbautechnik“ Wojnicz aus Lemberg in den Luftkurort Görbersdorf. Da Polen damals dreigeteilt war, fährt Wojnicz damit aus dem zu Österreich-Ungarn gehörenden Teil seines Vaterlands ins preußische Schlesien. Das auf Deutsch zu führende Aufnahmegespräch mit dem forschen Arzt Dr. Semperweiß strengt ihn an, ebenso die Lektüre der ungewohnten Frakturschrift.

Merkwürdiger Gemütszustand

Olga Tokarczuk, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2019, stammt aus dem niederschlesischen Sulechów und hat ein ausgeprägtes Interesse an der binationalen Geschichte der Region: Bereits mit „E.E.“ schrieb sie einen Roman rund um die Spiritistin Erna Eltzner, die um 1900 in Breslau Furore machte. Nun seziert die 61-jährige mit ihrem rhapsodischen Stil und stets weit in Historie und Mystik ausgreifendem Gestus die unheimlichen Ereignisse in Görbersdorf, von dem es heißt: „Man verfällt hier in einen merkwürdigen Gemütszustand.“

Görbersdorf (Sokołowsko) war das Vorbild für das weitaus berühmtere Sanatorium in Davos. Trotz fehlendem Friedhof ist dort der Tod allgegenwärtig: Am Tag nach Wojnicz‘ Ankunft im „Gästehaus für Herren“ liegt die Frau des Pensionsbesitzers Opitz tot auf dem Tisch – sie hat sich aufgehängt. Ungerührt mutmaßen die Gäste beim Essen über ihr Motiv. Sie kommen überein, dass man „die Tat einer Frau nicht als im vollen Bewusstsein vollzogenes Handeln betrachten“ könne, denn, so Geheimrat Frommer: „Die Psychologie der Frau hat bewiesen, dass die Frau zugleich Subjekt und Objekt ist, somit können auch ihre Entscheidungen nur bedingt als bewusst angesehen werden…“

Die misogynen Weisheiten, die Olga Tokarczuk ihren Disputanten mit diebischem Vergnügen in den Mund legt, stammen von Geistesgrößen wie Ovid, Plato, Jean-Paul Sartre oder Otto Weininger, wie sie im Anhang erläutert. Geister ist das zentrale Stichwort für „Empusion“: Das Geschehen rund um Mieczysław Wojnicz, den Berliner Kunstgeschichtsstudenten Thilo von Hahn, den Sozialisten August August und dessen katholisch-konservativen Kontrahenten Longinus Lukas wird von einer diffusen Erzählinstanz im Plural geschildert, den „weiblichen Wesenheiten“.

Schlesische Schauergeschichte

Sie halten sich unter Türschwellen oder auf dem Dachboden auf, vor allem aber im umgebenden Wald. Dort ereignet sich stets im November eine Art von Ritualmord, was die Herren beim Genuss des Likörs „Schwärmerei“ tief beunruhigt. Sollten im Mittelalter verbrannte Hexen oder die „Tuntschis“ sich an ihren Peinigern rächen? Dabei handelt es sich um Sexpuppen, die Köhler im Wald aus Moos formen.

Nur die Sensiblen unter den Männern erspüren die Not der Natur, die Tokarczuk stereotyp mit dem Weiblichen gleichgesetzt: Der schwerkranke Student Thilo, dessen Fieberkurve sich wundersamerweise der Linie der Berggipfel anpasst, ebenso Wojnicz. Er fühlt sich zur Selbstmörderin Opitz und deren Kleidern hingezogen und zeigt sich nie nackt: eine offenbar genderfluide Figur in einem genrefluiden Roman.

Die Lunge ist wirklich real

Auf diese Weise kontrastiert die Autorin die Wissenschaftsdiskurse der klassischen Moderne mit dem Übersinnlichen. Dabei driftet sie zum Glück nicht ins Esoterische ab, wie sie es sonst gerne tut, zuletzt in der Monumentalsaga „Die Jakobsbücher“.

Mit ihrer schlesischen Schauergeschichte hat Olga Tokarczuk die kruden Thesen ihrer Romanfiguren, die gerade in Polen gar nicht so gestrig sind, glanzvoll und höchst unterhaltsam widerlegt. Diesen Glanz verdankt „Empusion“ nicht zuletzt Tokarczuks bewährten Übersetzern Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.

Mit Vokabeln wie „blümerant“ oder „Strahlendusche“ rufen sie eine versunkene Epoche auf. Weitaus interessanter als der Geschlechterdiskurs dürfte für die deutsche Leserschaft jedoch der historische sein. So formuliert Mieczysław Wojnicz beim Entlassungsgespräch die glühende polnische Sehnsucht nach der Eigenstaatlichkeit: „Meine Lunge ist real, aber meine Nationalität ist es nicht mehr. [Sie] gehört vermutlich schon lange ins Reich der Mythologie.“ 1918 hat sich das endlich geändert.

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