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Reise ans Ende der Welt. Der Rächer (Chen Jianbin) auf der Suche nach dem Mörder seines Bruders in „People Mountain People Sea“ von Cai Shangjun aus China.

© La Biennale

Filmfest Venedig: Nur noch wenige Tage, bis wir den Sieger kennen

In den letzten Tagen der diesjährigen Festspiele sehen wir unter anderem Endzeitfilme über Japans Tsunami, Katrina und den Untergang von New York. Währenddessen wird mit Spannung der Preisträger des Goldenen Löwen erwartet, der am Samstag verliehen wird.

Der Weg zum Kino ist der schönste der Welt. Die kleine Uferstraße an der Lagunenseite des Lidos von Venedig ist von Oleanderbüschen gesäumt, die seidige Luft streichelt einem schon morgens die Haut, drüben im Dunst tauchen die Kuppeln von Venedig auf und man begreift einmal mehr die Einmaligkeit dieser einst so mondänen Strandinsel. Ein derart schmaler Landstrich zwischen Lagune und Adria, ein derart unwirklicher Ort zwischen den Wassern bedeutet eine Herausforderung für jeden Festivalfilm. Es träumt sich hier anders. Und es verändert die Wahrnehmung, vor allem den Blick auf Realismus im Kino.

Zum Beispiel auf den subjektiven Realismus der britischen Regisseurin Andrea Arnold und ihrer Emily-Bronte-Adaption „Wuthering Heights“. Ihre unruhige Handkamera splittert die Romeo-und-Julia-Tragödie des wilden Knechts und der in bessere Kreise einheiratenden Farmerstochter Catherine in extreme Close-Ups und Totalen: Haut und Haar, Wind und Astwerk, schnaubende Pferde, Insekten im Moos und immer wieder das Hochmoor, eine Landschaft von majestätischer Melancholie. Eine ausgefeilte Ästhetik der Sinnlichkeit, deren Detailversessenheit auf Dauer aber jedes Interesse an den Liebenden erstickt.

Sturmböen auch über der Adria: Seit Tagen herrscht Katastrophenstimmung auf dem 68. Filmfest Venedig. Japan schickt mit „Himizu“ von Sono Sion eine Coming-of-Age-Geschichte vor dem Hintergrund des Tsunamis ins Löwenrennen. Abel Ferrara zeigt in „4:44 Last Day on Earth“ die letzten Stunden eines New Yorker Paars vor dem sicheren Weltuntergang. Jonathan Demme porträtiert in „I’m Carolyn Parker: The Good, the Mad and the Beautiful“ eine Heldin von New Orleans nach Katrina.

Die schwarze Carolyn Parker, eine dicke, zähe, energische Alte mit kaputten Knien und einem unglaublichen Lachen, hat die Rassentrennung in Amerika noch persönlich erlebt. Ihr Viertel Lower 9th Ward wurde vom Hurrikan 2005 fast völlig zerstört. Parker kehrte als erste zurück, kämpfte für den Wiederaufbau der Lower 9th Ward, gab einfach nicht auf. Ein Film als Solidaritäts-Adresse: Fünf Jahre lang hat Demme immer wieder bei seiner Protagonistin vorbeigeschaut. Für mehr als Stippvisiten reichte es leider nicht – weshalb seine in der Reihe „Orizzonti“ gezeigte Dokumentation eine etwas oberflächliche Hommage an eine tapfere, außergewöhnliche Amerikanerin bleibt.

Der Japaner Sono Sion („Love Exposure“) ist selber betroffen. Er schrieb gerade an einem Drehbuch nach dem Manga „Himizu“. Das bedeutet Maulwurf, es geht um Wesen, die die Sonne nicht ertragen: Der 14-jährige Sumida wächst in der Provinz auf, er will im Bootshaus der Eltern am See ein normales Leben führen, aber die Zukunft ist ihm verwehrt. Die Eltern hassen ihn, die Schule erscheint ihm sinnlos, das Mädchen, das sich in ihn verschossen hat, geht ihm auf die Nerven, und eine Yakuza-Bande lauert ihm auch noch auf. Die Gewalt, die Sumida widerfährt, macht ihn selbst zum Gewalttäter.

Nach dem Erdbeben vom 11. März änderte der Regisseur das Script. Er stellte seine Protagonisten mitten in einen vom Tsunami verwüsteten Landstrich hinein, radikalisierte den Plot. „Himizu“ ist ein anfangs schwer erträglicher, hysterischer Film über eine Jugend ohne Zukunft, die permanent Tiefschläge einsteckt, aber nicht verstummt vor lauter Verzweiflung, sondern wild um sich schlägt. Nach einer Weile begreift man, dass Sumida und das Mädchen gar nicht anders können, so überfordert, wie sie sind. Sie kommen mit der Welt nicht zurande, und Sono Sions Film, der zeitgleich zu Fukushima entstand, kommt der japanischen Realität so womöglich am nächsten: als schrille, gleichsam geschrieene apokalyptische Poesie.

Abel Ferrara hält es lieber mit dem Dalai Lama. Ein Weltuntergangs-Szenario zehn Jahre nach 9/11, ein Paar, das in einem Hochhaus-Appartement unweit von Ground Zero mit Blick über Manhattan seine garantiert letzten Stunden verlebt – unter Regie des Kultfilmers Ferrara („Bad Lieutenant“), der für seine Beschäftigung mit religiösen und überhaupt letzten Fragen berühmt und berüchtigt ist: Eigentlich wurde das Endzeit-Kammerspiel „4:44 Last Day on Earth“ mit Spannung erwartet. Aber es versammelt bloß läppische Altmänner-Fantasien: Willem Dafoe (als er selbst) lebt mit der erheblich jüngeren Malerin Skye (Shanyn Leigh) zusammen. Al Gore hatte recht, die Klimakatastrophe ist schneller da als befürchtet. Aber bevor die Welt um 4.44 Uhr in die Luft fliegt, haben die beiden mehrfach hübsch gefilmten Sex miteinander, sie skypen mit den Eltern, mit Freunden und der Ex, während auf diversen TV-Monitoren globale Abschiedsparties gefeiert werden und der Dalai Lama sowie andere Gurus buddhistische Lebensweisheiten von sich geben. Ein älterer Mann in den Armen einer jungen Rothaarigen, die Leinwand wird weiß, wir sind jetzt Engel, sagt Skye. Das ist das Ende.

Realismus? In solch selbstgenügsamen Kinofantasien steckt eine fast aggressive Ignoranz gegenüber der Lebenswirklichkeit anderer. Man braucht sich dafür nur Cai Shangjuns chinesischen Wettbewerbsbeitrag „People Mountain People Sea“ in Erinnerung zu rufen, der in Venedig unmittelbar vor Ferrara zu sehen war. Ein Rache-Feldzug eines einfachen Arbeiters, er will den Mörder seines Bruders töten. Ein Höllentrip, immer weiter hinunter, zu den Ärmsten der Armen, zuletzt in ein illegales Bergwerk, eine rabenschwarze grausame Welt ohne Hoffnung – die Nachtseite der boomenden Wirtschaftsmacht China. Verbotene Bilder: Manchmal braucht Realismus den Mut, auch auf eigene Gefahr hin zu zeigen, was nicht an die Öffentlichkeit soll.

Am Samstag werden am Lido die Löwen vergeben. Vielleicht ist die Jury unter Leitung von Daren Aronofsky ja ihrerseits mutig genug, Cai Shangjun auszuzeichnen. Oder sie trifft eine Konsens-Entscheidung und ehrt „A Simple Life“ aus Hongkong, die zu Tränen rührende Geschichte einer einfachen Hausmagd, die nach 60 Jahren im Dienst einer Familie ins Altersheim kommt. Nach all den Katastrophen hält „A Simple Life“ eine tröstende Botschaft bereit: Manchmal genügt ein einziger Mensch, um die Erde in einen besseren Ort zu verwandeln.

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