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Kultur: Nur 90 Minuten

Deutsches Theater: Musils „Mann ohne Eigenschaften“

Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist der Klassiker unter den ungelesenen Büchern, und kaum jemand schämt sich, die mehrtausendseitige Bildungslücke im Regal einzugestehen. Eine smalltalktaugliche Handlung besitzt das Konvolut, an dem Musil bis zum Lebensende schrieb und das dennoch Fragment blieb, sowieso nicht. Es braucht jedenfalls Chuzpe, darin einen Bühnenstoff zu erkennen. Oliver Reese, Chefdramaturg und Regisseur am Deutschen Theater, schreckt vor keiner Wahnsinnstat zurück, er hat aus den uferlosen Goebbels-Tagebüchern einen Abend destilliert, als Wegbegleiter Michael Thalheimers ist er daran gewöhnt, noch jedes Epos auf Fußballspiel-Länge zu verkürzen. So gibt es auch den „Mann ohne Eigenschaften“ in 90 Minuten. Das Kolorit „Kakaniens“, sprich: die österreichisch-ungarische Monarchendämmerung, weicht einer heutigen Lounge-Atmosphäre, das Romanpersonal wird zusammengestrichen, die philosophischen Betrachtungen sind auf Normalreflexionsmaß gestutzt. Reeses Fassung ist weniger Literaturadaption als Schnelldiagnose einer Zeitgeistkrankheit.

Auf weißem Drehbühnengrund (Hansjörg Hartung) genügt da eine gebogene Holzwand als Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Second-Life-Gesellschaft. Antiheld Ulrich (Alexander Khuon), der wie weiland Rudi Dutschke nach dem Attentat beschlossen hat, noch einmal anders Mensch zu werden, bildet deren leere Mitte. Ulrich ist das, was man im Fin-de-Siècle als Epochentyp des Dilettanten kannte: Einer, der die Anlagen zu tausenderlei Daseinsformen in sich fühlt, aber nicht zum Leben kommt. Khuon verkörpert das trefflich. Für ihn ist auch Liebe nur eine Möglichkeit. Wie Zwillingsschwester Agathe (Kathrin Wehlisch), mit der er Liebes-Billard frei nach Platons Kugelgleichnis spielt. Oder Salonlöwin Diotima, von Marie-Lou Sellem als Femme fatale hingefaucht, deren Küsse ihn nur theoretisch reizen. Schließlich Clarisse (Constanze Becker), die Ulrich als Einzige zu verstehen glaubt. Sie ist eine tragische Figur, die im eigenen Mann Walter (Matthias Bundschuh) das Genie sehen will und Gerechtigkeit für den Sexualmörder Moosbrugger einfordert (Bernd Stempel), der in diesem ErosReigen den Thanatos gibt. Reeses Konzentrat, das von Frank Seppeler als Conférencier Robert zusammengehalten wird, ist kurzweilig, aber keine zwingende Argumentation für die Theatertauglichkeit der Vorlage. Es mag als Anstoß zur Lektüre dienen.

Wieder am 1., 7., 23. und 30. Mai

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