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Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

© / Foto: AFP/ANDREA RENAULT

Noch ein Ereignis: „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

In ihrem jüngst auf Deutsch veröffentlichten Buch erzählt die Literaturnobelpreisträgerin von ihrer Schwester, die sie nie kennengelernt hat

Man kennt diese Herangehensweise schon aus anderen Büchern von Annie Ernaux: Wieder ist es ein Foto, mit dem sie beginnt, das der Auslöser dafür ist, mit sich selbst in einer bestimmten Lebensphase oder einer anderen Person aus ihrem engsten Umfeld auseinanderzusetzen. Dieses Mal ist diese Person „Das andere Mädchen“, so der Titel des jüngsten, auf Deutsch erschienenen Buches der Literaturnobelpreisträgerin, das in Frankreich 2011 veröffentlicht wurde.

 Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“

Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“

Das andere Mädchen ist eine Schwester von Ernaux, die diese nie kennengelernt hat. Denn sie starb zwölf Jahre vor Ernaux’ Geburt, am Gründonnerstag des Jahres 1938, an Diptherie, und gleich nach der Betrachtung des Fotos gesteht die Schriftstellerin viele Jahre an das Grab ihrer Eltern und eben jener Schwester gegangen zu sein, „aber dir habe ich nie etwas zu sagen.“ Das wiederum ändert sie nun mit diesem, keine 75 Seiten zählenden Buch, nicht zuletzt weil es da diese eine, fast schon traumatische Erfahrung gab.

1950 nämlich, da ist Annie Ernaux zehn Jahre alt, verfolgt sie ein Gespräch ihrer Mutter mit einer anderen Frau, darin geht es um die so jung Verstorbene, die Mutter kann die Tränen kaum zurückhalten. Die Zehnjährige schnappt Sätze wie „bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige“ auf, „mein Mann ist durchgedreht“ und vor allem: „Sie war viel lieber als die da.“

Ja, und Ernaux folgert: „Die da, das bin ich.“ Und sie folgert auch, das genaue Gegenteil dieser so lieben, wie ein Heilige wirkende Schwester zu sein, sie ist gekränkt, sie fühlt sich „für dumm verkauft“, „geprellt“, aber sieht auch ihre Existenz in einem anderen Licht: „Du musstest also mit sechs Jahren sterben, damit ich geboren und errettet werden konnte.“ Und, um der Sache noch näher zu kommen, hier geht es eben auch ums Schreiben, um eine Initiation, um die Fortführung des Gedanken, genauso „gegen“ wie „für“ die ihr häufig nicht gewogene Mutter geschrieben zu haben: „Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“

Nun fragt sich natürlich, nach den vielen Ernaux-Büchern über ihre Eltern, über sich als junges Mädchen, ihren Schwangerschaftabbruch, über ihre Jahre als Lehrerin und erst angehende Schriftstellerin: Muss das jetzt auch noch sein? Tatsächlich ist es auch einigermaßen überraschend, denn war von dieser toten Schwester schon in anderen Büchern die Rede?

Und: Hat Ernaux nicht schon jeden Winkel ihres Lebens ausgeleuchtet: erzählend, analytisch, gleichermaßen spröde poetisch wie schonungslos soziologisch. Man hat kurz den Gedanken eines gewissen Überdrusses, wenn man so will: ein Édouard-Louis-Gefühl (hat er doch alles schon erzählt), und dann diese nicht unaufdringliche Anrede in der zweiten Person, dieser Brief, den dieses Buch darstellt.

Das intime „Du“ ist für Ernaux eine Falle

Doch dann ist es auch wieder so, dass selbst die außergewöhnlichsten Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer dasselbe Buch schreiben (auch weil sie es eben noch besser machen wollen), sagen wir jetzt einfach mal: Patrick Modiano. Und so wie man von diesem im Grunde nie genug bekommen kann, ist es auch mit Ernaux.

Zumal sie der Betrachtung des Verhältnisses/Nicht-Verhältnisses zu ihrer Schwester immer wieder neue Facetten abringt. Von „einer inneren Dunkelheit“, in der sie sie gehalten habe, schreibt Ernaux, sie hat sie nie erwähnt, auch das „Du“ bezeichnet sie als „Falle“, als Intimitätsfalle, und dann ist da noch Cesare Pavese, der 1950 in einem Turiner Hotelzimmer Selbstmord beging, als Ernaux zehn Jahre alt war und erstmals von ihrer Schwester hörte, zufällig am selben Tag.

„Das andere Mädchen“ hat etwas offen Unversöhnliches, und es fragt sich, ob Annie Ernaux ihre Schwester in ihrer Nobel-Lecture am 7. Dezember in Stockholm erwähnt. Das nächste Detail aus ihrem Leben folgt dann in Buchform gleich ein paar Wochen später, „Ein junger Mann“ betitelt, die Geschichte einer Liebe von Ernaux im Alter von fünfzig Jahren zu einem zwanzig Jahre jüngeren Mann.

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