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Der Nimbus, „ein Wolkensystem, aus dem Regen fällt“. 

© Helmut Meyer zur Capellen/imago

„Nimbus“ von Marion Poschmann: Der Einfluss des Klimas auf unsere Gefühle

Lyrik, die Tiere, Pflanzen und Eisenbahnen feiert – und den Formenreichtum. Marion Poschmanns Gedichtband „Nimbus“.

Der britische Amateurmeteorologe und Wolkenklassifizierer Luke Howards hatte „Nimbus“ als ein „Wolkensystem“ beschrieben, „aus dem Regen fällt“. Das war vor etwa zweihundert Jahren, als das Wetter noch als zufällige Naturerscheinung galt. Mittlerweile wissen wir, dass es auch an uns liegt, ob es regnet – oder eben nicht. Wir hätten es also möglicherweise mit selbst gemachten Regenwolken zu tun, wenn wir „Nimbus“, den neuen Gedichtband von Marion Poschmann, aufschlagen.

Der Band beginnt mit einem glasklaren Bild, das zugleich ein programmatischer Aufgalopp ist: „Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten / Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet, /aufgelöst, ganz schlicht, so wie man einen / Kühlschrank abtaut.“ Die Wärme kommt nicht aus dem Nichts, sondern von jenem Ich, das spricht und sich mitverantwortlich weiß: „Ich taute Grönland auf mit meinem Blick, / ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll / der Andacht überflog“.

Während der Flug noch zwischen individuellem nächtlichem Sehnsuchtstraum und Zeichen einer CO2-gesättigten Hybris der menschlichen Gattung oszilliert, wird mit „Grönland“ eines jener Bücher aufgerufen, das in letzter Zeit – zum Beispiel in Nico Bleutges aktuellem Band „nachts leuchten die schiffe“ – ungeahnte Konjunktur erfährt: Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“ von 1924, ein schwer lesbares Monstrum von einem Buch, das von der Enteisung Grönlands erzählt. Es gilt als Meilenstein einer Literatur im Anthropozän – jener neuen geochronologischen Epoche, in der Natur- und menschengemachte Geschichte nicht mehr zu entmischen sind. Diese Natur-Kultur-Verwindungen sind sowohl für die Prosaautorin als auch für die Lyrikerin Marion Poschmann von einiger Bedeutung.

Vielzahl lyrischer Formen

Poschmann hält Dichtung für ein „Medium bildbezogener Erkenntnis“, also eine gleichermaßen intellektuelle wie sinnliche Angelegenheit. Störungen im ökologischen Gleichgewicht, heißt es in „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“, einem Band mit poetologischen Texten, schlagen unweigerlich auf den Gefühlshaushalt durch. Deswegen schreibt sich „Natur“ mit ihren auch emotionalen Werten massiv ins Gedicht ein. 

Unverstellt freilich geschieht das nicht, ihre Bildlichkeit will erschlossen werden. Oft nähert man sich, geführt von einer Stimme, den Dingen so stark an, bis sie unterm genauen Blick in kleinste Einzelteile zerfallen und das Ganze unscharf wird. Winzige „Algenfalten“ etwa werden sichtbar, wenn Algen am Strand „vor und wieder zurück, schleppen, was gestern war, / in den heutigen Tag, so / monoton und unbeirrt“. Dann aber – wenn man dem Hinweis folgt, dass „erst loslassen muss / wer etwas fassen will“ – wird Größeres sichtbar. Der „Ufersaum“ nämlich, ein Raum, „wo sich Vorher und Nachher mischt“, Zeiten sich überlagern, einen ewigen Kreislauf installieren.

Marion Poschmann formatiert ihre Bilder durch eine Vielzahl lyrischer Formen, den freien Vers etwa, aber auch durch die ihm verblüffend nahe Ode. Deren hoher Ton wird mit Selbstironie geerdet: „Rettung des Weltklimas aus / dem Geiste der deutschen Ode – / haben wir uns da nicht etwas / viel vorgenommen?“ Erzählenden Charakter hat bestenfalls jener der neun Abschnitte des Bands, der mit „Die Große Nordische Expedition“ überschrieben ist.

„Meine Kindheit jene der Tetrapaks“

Just in diesem Teil aber, der den deutschen Forschungsreisenden in Sibirien, Johann Georg Gmelin zum Gegenstand hat, realisiert Poschmann die strengste Gedichtform quasi in Potenz: das Sonett, das hier als Sonettenkranz mit fünfzehn einzelnen, fein verflochtenen Gedichten erstrahlt.

Der als „ich sah“ verbalisierte Wahrnehmungsakt, der diese Gedichte durchzieht, ist zum einen unerlässlicher Bestandteil der gesamten boomenden Nature-Writing-Literatur. Zum anderen verweist „ich sah“ auch auf den Bibeltext, insbesondere auf die Offenbarung des Johannes mit ihrem apokalyptischen Geschehen. Verse wie diese lassen sich dann als Eingeständnis lesen: „Seltsam, dass Dinge wie Haarspray mit mir zusammen / auf die Welt kamen. Meine Kindheit jene der Tetrapaks, / Plastiktüten und Kühltruhen“.

Auch eine mögliche Apokalypse also wäre selbst gemacht. Davon allerdings wollen Marion Poschmanns „Nimbus“-Gedichte vorerst nichts wissen. Vielmehr feiern sie Tiere, Pflanzen und Eisenbahnen – und nicht zuletzt den Formenreichtum, mit dem sich Dichtung der „Zumutung der Eindeutigkeit“ entzieht. 
Marion Poschmann: Nimbus Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 115 Seiten, 22 €.

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