zum Hauptinhalt
Die 49-jährige schwäbische Schriftstellerin Anna Katharina Hahn.

© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Neues Buch von Anna Kathrina Hahn: Fliegende Pfannkuchen

Die übersättigte bürgerliche Gesellschaft: Anna Katharina Hahns komischer und anrührender Generationenroman „Aus und davon“.

Der Pfannkuchen hängt unter der Decke. Ein Symbol des Scheiterns. Und der Anarchie. Der kleine Bruno, Elisabeths stark übergewichtiger Enkel, hat den Pfannkuchen in einem Wutanfall nach oben befördert. Elisabeth, die sich vier Wochen um ihn und die Teenie-Enkelin Stella kümmern soll, ist mit der Aufgabe total überfordert. Was der Pfannkuchen, der sich nur sehr langsam von der Decke löst, ihr in aller Klarheit spiegelt.

Anna Katharina Hahn hat mit „Aus und davon“ einen komischen, zugleich anrührenden Familienroman geschrieben. Immer wieder legt sie die Schwachstellen ihrer Figuren frei, erspart sie ihnen keine Peinlichkeit, keinen Ausraster – und trotzdem steht sie ihnen bei, lässt sie sie nicht im Stich, erweist sie ihnen ihren Respekt. Hahn ist eine kluge, genaue Beobachterin, die den Bogen über vier Generationen spannt, sie ist ungemein fabulierfreudig und verwendet zahlreiche Perspektiv- und Zeitenwechsel.

Der Enkel-Job ist mehr Pflicht als Spaß

Für Elisabeth, die immer in Gefahr ist, an den eigenen Perfektionsansprüchen zu scheitern, ist der Enkel-Job mehr Pflicht als Spaß. Aber sie will ihrer Tochter Cornelia, Physiotherapeutin, geschieden und alleinerziehende Mutter, eine Auszeit in den USA gönnen, weshalb sie auf Zeit in deren Wohnung im Stuttgarter Osten einzieht.

Danach geht alles schief, was schiefgehen kann: Bruno ist plötzlich verschwunden, und Elisabeth gerät in Panik. Später taucht er wieder auf, weigert sich aber, zum Unterricht zu gehen, weil er von seinen Mitschülern gemobbt wird. Stella betrinkt sich, nachdem ein Freund sie verlassen hat, und kotzt ihren Kummer gleich wieder aus – im häuslichen Flur.

In der Zwischenzeit reist Cornelia durch die USA, von New York bis nach Meadville, Pennsylvania. Sie ist unterwegs auf den Spuren ihrer Großmutter Gertrud, genannt Trudele, Elisabeths Mutter. Gertrud hatte einst in der Weltwirtschaftskrise als junge Frau in Meadville als Hausmädchen gearbeitet, bei entfernten Verwandten, die in die USA ausgewandert waren.

[Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie jeden Donnerstag auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty. ]

Was Cornelia in Meadville zu hören bekommt, ist ein Familiengeheimnis, von dessen Tragik sie nichts ahnte: Die Keplers, bei denen Gertrud arbeitete, waren Opfer eines Schiffsunglücks geworden, das 1904 tatsächlich passiert ist: Auf dem New Yorker East River sank der Ausflugsdampfer „General Slocum“, mehr als 1000 Menschen starben, auch die Keplers haben Opfer zu beklagen. Eines von ihnen, Wilhelmina, kommt mit schweren Brandverletzungen davon, Gertruds Aufgabe ist es, die Versehrte zu pflegen.

Warum die Keplers ihren Verwandten in Deutschland nichts von all dem erzählt hatten? Vermutlich aus Scham. Schließlich hatten sie einst mutig die Heimat verlassen, „um etwas Besseres als den Tod zu finden“ – Wohlstand, Ansehen, Glück. Das maximale Unglück passt nicht zum amerikanischen Traum. Dass Anna Katharina Hahn das Schiffsunglück einfach ins 1919 verlegt, weil das besser in ihre Geschichte passt, ist gewagt – aber es sei ihr verziehen.

Das Besondere an diesem munter durch die Generationen mäandernden Roman: Er hat auch noch eine zweite, fantastische Ebene. Sie trägt märchenhafte Züge, verbindet die Figuren durch das Jahrhundert hindurch und handelt von einer unscheinbaren, mit Linsen gefüllten Puppe, den „Linsenmaier“, die fühlen und denken kann wie ein Mensch.

Auch im letzten Roman spielte sie mit fantastischen Elementen

Die Puppe ist Brunos „Trösterle“, und mit ihr ist Gertrud einst nach Meadville gefahren. Die in Ton und Sprache bewusst altertümlich gehaltenen Linsenmaier-Kapitel wollen zunächst nicht recht in den Roman passen. Sie wirken prätentiös, entwickeln nach und nach aber ihren eigenen Charme. Schon in ihrem letzten Roman „Das Kleid meiner Mutter“ hatte Hahn mit fantastischen Elementen gespielt.

Elisabeth ist das starke Zentrum von Anna Katharina Hahns neuem Roman. Sie muss damit leben, dass sie die Geister ihrer Vergangenheit in Fellbach bei Stuttgart nicht los wird. Die Geister, das sind zwei gelbgesichtige strenge Diakonissen, die gelegentlich bei ihren tief gläubigen Eltern zu Gast waren und offenbar jedem direkt ins Herz schauen können.

Auch später wird Elisabeth von den verknöcherten Moralvorstellungen der „Fellbacherinnen“ eingeholt, von denen sie sich nur schwer befreien kann.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellen Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Während ihr Gatte Hinz deutlich mehr dem Dolce Vita zugetan ist. Die Passagen über die frommen Pietisten im Ländle, den „Pietkong“, „Gottes Bodenpersonal“, sind ebenso süffisant wie die Porträts der Amish People in den USA, denen Cornelia auf ihrem Trip durch die USA begegnet.

„Aus und davon“ ist ein beeindruckender, unbedingt lesenswerter Roman, der vom Zusammenbruch bürgerlicher Sicherheiten erzählt. Was Cornelia als jüngere Frau erlebt – das Scheitern ihrer Ehe – , erfährt Elisabeth in späten Jahren: Hinz verlässt sie nach einem Schlaganfall, den er glimpflich übersteht, für eine neue Liebe.

[Anna Katharina Hahn: Aus und davon. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 308 Seiten, 24 €]

„Aus und davon“ erzählt aber auch von Aufbrüchen: Menschen lösen sich aus festen Strukturen, um ihr Glück anderswo zu finden: Gertrud geht nach Amerika, Hinz zieht von zu Hause aus. Cornelia, die gestresste Alleinerziehende, flüchtet in die Staaten, Bruno, ihr Sohn, haut von zu Hause ab. Vier Generationen, vier Aufbrüche. Nur Elisabeth bleibt, wo sie ist, erst bei ihrem Mann, dann bei den Enkeln, die Versorger-Omi. Die still vor sich hin leidet, weil sie letztlich in sich gefangen ist. Immerhin hat sie den Mut, den Kindern auch mal ganz pragmatisch Miracoli-Nudeln aufzutischen und vorgeschnittenen Salat zu kaufen, anstatt die Blätter mühevoll selbst zu zupfen.

Überhaupt wird hier über die Maßen viel gekocht, gegessen, geschlemmt, gefressen und über Essen debattiert. In Deutschland stapeln sich die Pfannkuchen, in den USA die Pancakes. Diät oder Junkfood? Frisch zubereitet oder aus der Tiefkühltruhe?

Anna Katharina Hahns Roman spiegelt eine übersättigte Gesellschaft, die sich den Luxus erlauben kann, solche Fragen zur Weltanschauung zu erheben. Dass die Miracoli-Nudeln mit Butter und Pilzen verfeinert werden, ist da fast schon Ehrensache.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false