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Der australische Musiker Nick Cave.

© picture alliance / dpa

Neues Album von Nick Cave: Der lange Weg zum Seelenfrieden

Nick Cave & The Bad Seeds haben ein minimalistisches Doppelalbum veröffentlicht. „Ghosteen“ klingt wie musikalische Trauerarbeit, mal ergreifend, mal kitschig.

Welch messianische Heilserwartung Nick Cave zuweilen bei seinen Anhängern wecken kann, ließ sich einmal mehr in den vergangenen Wochen beobachten. Kaum hatte der 62-Jährige in einem Blogeintrag überraschend angekündigt, dass er ein neues Doppelalbum veröffentlichen würde, überschlugen sich die Spekulationen.

Dabei hatte Cave seiner Fangemeinde nicht viel an die Hand gegeben. Ein Albumcover, den Titel „Ghosteen“ und eine Liste der Songs. Doch auch mit den wenigen Anhaltspunkten, die Cave gereicht hatte, näherten sich seine Jünger im Internet in zahlreichen spekulativen Abhandlungen dem Geist des Werkes.

Da ist zunächst das Kofferwort „Ghosteen“, das Nick Cave als eine Art „Wandergeist“ definierte. Eine Selbstumschreibung des Künstlers, den es in seinem Leben nie lange an einem Ort gehalten hatte? Ganz im Sinne des Grimmschen Wörterbuchs „ein geist der in einem gewiszen hause umgehet und sich zu zeiten sehen und hören läszet“? Oder doch eine letzte Verneigung vor seinem mit nur 15 Jahren verstorbenen Sohn, der 2015 im LSD-Rausch eine Steilküste herabgestürzt war?

Und was hat es mit diesem in pastelligen Farben gehaltenen Artwork auf sich? Eine lichtdurchflutete, üppige Naturszenerie mit einem Gewimmel an Tieren, welche an Paradiesdarstellungen alter Meister wie Lucas Cranach oder Jan Brueghel erinnert. Als könnte Nick Cave in Gestalt des Orpheus im nächsten Augenblick in ihre Mitte treten. Eine visuelle Reizüberflutung, die aber ebenso gut als Titelbild einer Ausgabe von „Der Wachtturm“ dienen könnte.

Die religiöse Symbolik nimmt die thematische Ausrichtung des Albums vorweg: Eine Taube fliegt aus einem Lichtstrahl, im Zentrum sitzen Löwe und Lamm einträchtig beieinander, weiße Pferde galoppieren durch den Hintergrund. Sinnbilder für ewigen Frieden, Offenbarung, Seelenheil und Erlösung. Motive, die schon immer bei Cave durchschimmerten und nun durch den familiären Schicksalsschlag zur zentralen Triebfeder seines lyrischen und musikalischen Schaffens geworden sind.

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In der Nacht auf den Freitag hatte das Orakeln dann ein Ende. Um 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit erfolgte die Veröffentlichung auf Youtube. Weltweit fanden sich Fans zu Listening-Sessions in Plattenläden und Bars zusammen. Und was sie da hörten, war ein Sound, den man in seiner konsequenten Reduziertheit so noch nicht von Nick Cave kannte. Wabernde Synthesizerklänge eröffnen das erste Stück „Spinning Song“. Beinahe eine Minute dauert es, bis die Stimme einsetzt. Ein brüchiger Gesang, der sich später zu einem ungewohnten Falsett aufschwingt, ehe ihn ein sakraler Chor empfängt und ummantelt. Mantraartig wiederholt Cave die Formel „Peace will come in time“.

Flüstern, Klimpern, Wabern - die Band schweigt meistens

Viel mehr passiert auf diesem Album dann auch nicht, das zunächst nur digital und am 8. November auch auf Vinyl und CD erscheint. 72 Minuten des Flüsterns, Klimperns und Waberns. Damit ist „Ghosteen“ die konsequente Fortsetzung der Reduktion vergangener Alben. Auf dem Weg zu einer immer spärlicheren Instrumentalisierung wurden nicht nur die Gitarren und die Rhythmusfraktion weitestgehend stummgeschaltet. Selbst die sonst so charakteristische Geige von Caves kongenialem Partner Warren Ellis schweigt.

Warum finden The Bad Seeds überhaupt noch Erwähnung auf dem Albumcover? „Ghosteen“ klingt so, als hätte der Zeremonienmeister seelischer Abgründe mit Klavier und einigen Presets aus dem Synthesizer die Grundskizzen seiner melancholischen Ergüsse vorgezeichnet und später im Studio lediglich mit Streichern und Chorälen anreichern lassen.

Manche Stücke erinnern an Heilmeditationsmusik

Herausgekommen sind dabei ergreifende Songs wie die Klavierballade „Waiting For You“, ein elegisches Zeugnis seiner Trauerarbeit. Aber eben auch Stücke wie „Bright Horses“, die sich zu weit in den Kitsch- und Schmalzsumpf vorwagen und darin steckenbleiben, nahe an der klanglichen Untermalung für eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung.

An anderen Stellen sind die omnipräsenten Synthieklänge kaum vom Musikbett einer Heilmeditation auf Youtube zu unterscheiden. Ist das nun die Vollendung eines Künstlers oder die Vollendung des Kitsches?

Nick Cave hat sich in den letzten Jahren geöffnet wie nie zuvor

Sachlich lässt sich das kaum beurteilen. Es fühlt sich an, als müsste man eine Trauerrede rezensieren. „Viele Menschen haben ähnliche Verluste erlitten, und wenn einem das klar wird, fühlt man sich nicht mehr ganz so allein und hoffnungslos in seinem Schmerz“, sagte Cave vor einiger Zeit in einem seiner spärlich gesäten Interviews. Und vielleicht ist das sein größtes Verdienst. Diese schonungslose Offenherzigkeit, das Ausleben radikaler Trauerarbeit in seinem Werk. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Gesellschaft, in der das Bekenntnis zu Schmerz oft genug als Wettbewerbsnachteil gewertet wird.

Nick Cave hat sich über die vergangenen Jahre geöffnet wie nie zuvor. Konzerte wurden zu Gruppentherapien, bei denen er körperliche Nähe im Publikum suchte. Er veranstaltete Gesprächsabende mit Anhängern und verkündete auf seinem Blog: „Ihr könnt mich alles fragen!“ Aber endgültige Antworten auf die großen Fragen der menschlichen Existenz hat auch der Musiker nicht. In seiner Ratlosigkeit Trost spenden aber, das kann Nick Cave.

Und zwischen all der erdrückenden Schwere von „Ghosteen“ scheint er seinen Hörern immer wieder zuzuflüstern: Was da ist, das darf da sein. Was da sein darf, das vergeht. Und so bleibt ihm nicht mehr, als am Ende des letzten Songs „Hollywood“ mit einem Appell an die Geduld zu enden: „It’s a long way to find peace of mind.“

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