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Die polnische Musikerin Julia Marcell, 38.

© Promo

Neues Album von Julia Marcell: Klang der Geisterstadt

Pop-Musikerin Julia Marcell pendelt zwischen Berlin und Warschau. Jetzt hat sie das Album „Skull Echo“ veröffentlicht –  und sitzt in Polen fest.

Berlin steht still. Entvölkerte Straßen, öde Hausflure, pulsierende Lichter. Obwohl, ein wenig Bewegung ist da schon: S-Bahntüren, die sich schließen. Ein Riegel, der in Zeitlupe durch den Snackautomaten fällt. Ein Zimmer in einem Altenheim, durch das ein Lüftchen weht. Uhren ticken an der Wand, die Zeit verrinnt.

Wenn die große Stadt ihrer Menschen beraubt wird, verwandelt sie sich in den Schauplatz einer großen Einsamkeit. So jedenfalls sieht das im Video zu „The Odds“ aus. Die polnische Künstlerin Julia Marcell hat den Song nicht nur geschrieben und gesungen, sie hat auch das Video dazu gedreht.

Statt zurück nach Berlin fuhr Marcell zu ihren Eltern

Was wie eine Bestandsaufnahme aus dem Berlin der frühen Corona-Tage anmutet, entstand schon Anfang Januar. Als es in Europa losgeht mit den Ausgehbeschränkungen, ist „The Odds“ als Vorabsingle des nun veröffentlichten Albums „Skull Echo“ (Long Branch Records/SPV) bereits erschienen.

Julia Marcell erlebt nicht mit, wie sich Berlin in die Geisterstadt ihres Videos verwandelt. Denn sie hält sich zu dieser Zeit in Warschau auf. Im Zweiwochen-Rhythmus pendelt die 38-Jährige zwischen der polnischen Hauptstadt und ihrer Zweitwohnung in Prenzlauer Berg. Sie mag die Veränderung, bleibt gern in Bewegung.

Doch nun ist Marcell der Weg nach Westen versperrt – und sie reist weiter Richtung Osten. Rund 150 Kilometer hinter Danzig macht sie halt. Kehrt ein im Haus ihrer Eltern. Die leben am Rand der 170.000-Einwohner-Stadt Olsztyn, inmitten von vielen Seen und noch mehr Bäumen.

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Dort erreicht man Julia Marcell auch per Skype, um über ihr fünftes Album zu sprechen. Eigentlich sollte sie gerade mitten in der Tour stecken. Vier Konzerte in Polen konnte sie bis Anfang März noch spielen, dann ging nichts mehr. Band, Bühnenbild, Licht, Sound, alles sei wunderbar gewesen, sagt sie. „Und dann kann man es den Leuten nicht zeigen. Es bricht einem das Herz.“

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Ihre dunkelblonden Haare trägt Julia Górniewicz, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt, in der Mitte gescheitelt. Ihre kräftigen Augenbrauen akzentuieren das Gesicht und verleihen ihm eine gewisse Strenge. Wenn sie nicht gerade lacht.

Das transportiert eine Freude, die nicht recht passen will zur kühlen Kunstfigur, die ihr neues Album und die Fotos vermitteln, mit denen die Plattenfirma dafür wirbt.

Die Synthies schwirren heran wie ein Hornissenschwarm

Wenn man sich „Skull Echo“ anhört, braucht man nicht viel Fantasie, um sich die Musik auf der Bühne vorzustellen. „Wir haben uns Mühe gegeben, dass alles so groß klingt wie möglich“, sagt Marcell. Der Opener „Cerebral Bliss“ dämmert in einem zweiminütigen Intro heran. Die Synthies schwirren heran wie ein Schwarm bösartiger Hornissen.

Dann hämmert der Beat los, und Marcell fängt an zu singen. In mehreren verfremdeten Lagen hallt und brummt es um ihre luftigklare Stimme: „Your headlights blind me / I need but a spark / My eyes already used to the dark.“

Etwas Entmenschlichtes durchschleicht „Skull Echo“, wandelt sich für Momente gar in ein blankes Grauen. So hätte sich der an György Ligeti erinnernde Gesangsstrudel des zentralen Instrumentals „Which Way Is Now“ auch auf dem Soundtrack zum Horrorklassiker „The Shining“ gut gemacht.

Kühle Strenge und strahlende Melodien

In der Welt von „Skull Echo“ dominiert das Künstliche, doch das Organische begehrt zuweilen auf. Mal ist es ein Klavier, das sich für einige Takte behaupten kann, mal ein geslappter Bass, der sich durch die elektronische Soundkruste bohrt.

Der unterkühlten Instrumentierung zum Trotz schwingen sich die Songs immer wieder in Sphären der Pop-Seligkeit hinauf. Dann strahlen die Melodien, wie bei „The Odds“, der schwermütigen Ballade mit dem Geisterstadt-Video.

In der zweiten Hälfte des Albums werden die Stücke konzeptueller, man könnte sagen verkopfter, wie das beinahe achtminütige „Mother“, das längste Lied, das Julia Marcell je geschrieben hat. Sie sagt, sie sei sehr genau, wenn es um die Umsetzung ihrer Ideen gehe.

Dabei unterstützt hat sie der Produzent Michael Haves. Der Berliner, Teil der Popband Super700, ist von Haus aus Jazzmusiker. Mittlerweile produziert, komponiert und mixt er vor allem für andere Künstlerinnen und Künstler, gerne auch für Film- und Theaterproduktionen.

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Den Hang zum Filmischen haben Haves und Marcell gemein. Die Künstlerin drehte zunächst kurze Animationsfilme, dann kurze Spielfilme, schließlich ihre eigenen Musikvideos.

„Skull Echo“ hat sie nun zu ihrem ersten Langfilm inspiriert. Gemeinsam mit der Produzentin Natalia Grzegorzek arbeitet sie derzeit an einem Drehbuch. Über die Geschichte will sie noch nicht viel verraten. „Es geht um die eigene beschränkte Wahrnehmung, um Einsamkeit, die Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren.“

Per Crowdfunding zur ersten Plattenproduktion

Schon in jungen Jahren regt sich Marcells Kreativdrang. Mit sieben schreibt sie ihre ersten Songs, malt, verfasst Geschichten. Später studiert sie Visuelle Künste, arbeitet als Grafikdesignerin. Die Musik läuft da noch nebenher. 50.000 Dollar für ihre erste Platte sammelt sie im Internet per Crowdfunding.

Die Plattform vermittelt sie nach Berlin, wo sie 2008 ihr Debüt „It Might Like You“ aufnimmt. Für „Proxy“, die vierte Platte, kehrt sie 2016 längere Zeit nach Polen zurück. Das Werk, noch hörbar handgemachter als „Skull Echo“, ist das erste, die sie komplett in ihrer Muttersprache aufnimmt. „Polnisch ist eine schwierige Sprache zum Singen. Aber es ist meine Sprache“, erklärt Marcell. Die Herausforderung gefiel ihr so sehr, dass ihr neues Album nun in zwei Versionen erscheint: auf Polnisch und auf Englisch.

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Julia Marcell sagt von sich, dass sie den Hang hat, die Dinge bis ins Letzte zu durchdenken. Doch auf der Bühne muss ich voll da sein im Hier und Jetzt.“ Ein Gefühl, das sie als Gegengewicht brauche. Genauso wie die Bewegung, das merkt man auch im Videochat. Wenn sie ihre Ausführungen mit Gesten untermalt, schwankt der Laptop auf ihrem Schoß wie auf hoher See.

Bewegung findet Julia Marcel derzeit auf Waldwegen statt auf Konzertbühnen. Aber so ein Wald ohne Menschen erscheint doch weit weniger einsam als eine entvölkerte Stadt.

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