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Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan, 1966 in Paris geboren.

© Delphine Jouandeau/Verlag

Neuer Roman von Delphine de Vigan: Unser aller Schuld

Delphine de Vigans eindringlicher Roman „Dankbarkeiten“ erzählt von einer alten Dame, die ihr Sprachvermögen verliert und einer jungen Frau, die ihr beisteht.

Ob die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan jetzt eine thematische Reihe plant? „Loyalitäten“ heißt ihr Roman, der vor zwei Jahren in Frankreich unter dem Titel „Les loyautés“ erschien und vor allem von einem zwöfjährigen Jungen erzählt, der abwechselnd bei seinen geschiedenen Eltern lebt, sich um diese kümmert und anfängt zu trinken. Die Situation tut ihm nicht gut, sie lässt ihn verstummen. Trotzdem verhält er sich beiden gegenüber loyal.

„Dankbarkeiten“ („Les gratitudes“) heißt nun de Vigans neuer Roman, der gleich programmatisch beginnt: „Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie in Ihrem Leben wirklich Danke gesagt haben? Ein echtes Danke? Als Ausdruck Ihrer Dankbarkeit, Ihrer Anerkennung, der Schuld, in der Sie stehen“.

Marie wuchs bei Michka auf

Diese Frage nach der Dankbarkeit lässt Delphine de Vigan eine ihrer drei Hauptfiguren stellen, Marie, eine Frau um die dreißig. Marie ist bei Michka aufgewachsen, einer alten Dame, die sich ihrer annahm, nachdem Maries Vater verschwand und die Mutter psychisch erkrankte und mit der Erziehung nicht mehr klarkam.

Nun ist es Michka, die Hilfe braucht. Sie schafft es nicht mehr allein zu Hause, hat Absencen, vor allem beginnt sie, ihr Sprachvermögen zu verlieren. Michka kommt in ein Seniorenwohnheim, und Marie fragt sich, ob sie ihr schon genug gedankt habe: „War ich ihr nah genug, war ich präsent und beständig genug?“

"Was bleibt, wenn die Sprache nicht mehr da ist?"

Die Präsenz zeigt sie jetzt, sie besucht Michka regelmäßig. Genau wie ein Logopäde, der Jérôme heißt und eine große Sympathie für Michka entwickelt. Delphine de Vigan erzählt nun, wie sich die Beziehung der drei gestaltet. Marie sorgt sich, bemüht sich; Jérôme macht mit Michka Sprachübungen.

Er kämpft um die alte Frau, um jedes Wort, das er ihr entlockt: „Nichts aufgeben. Keine Silbe, keinen Konsonanten. Was bleibt, wenn die Sprache nicht mehr da ist?“ Doch er redet mit ihr genauso über sich und sein Leben. Sie fragt ihn zum Beispiel nach dem Verhältnis zu seinem Vater.

„Dankbarkeiten“ trägt die Züge eines Kammerspiels. Im Wechsel nimmt de Vigan die Perspektiven von Marie und Jérôme ein, gewährt aber auch Michka ein paar traum-, und albtraumhafte Sequenzen.

Kammerspiel-Atmosphäre

Die 1966 in Paris geborene Schriftstellerin zeigt fast quälend genau, wie die Wortfindungsstörungen von Michka zunehmen. Das vermittelt sich auch in der deutschen Übersetzung gut. „Die Tage werden dir sicher lang, arme Michka“, sagt Marie, worauf Michka antwortet: „Nicht so. Aber ... ich nütze nicht.“ – „Und fernsehen?“ – „O nein, weißt du ... zu viel Gedärn.“

Doch bei aller Kammerspielhaftigkeit, bei allem Räsonieren darüber, was es bedeutet, alt zu werden, („Denn sobald sie hier sind, verlieren sie hoch. In rauen Mengen. Sie verlieren ein Maximum“), bei allen immer schwieriger werdenden Gesprächen mit Michka, gelingt es de Vigan, die eine oder andere Geschichte zu erzählen, insbesondere die Lebensgeschichte von Michka, die jüdischer Herkunft ist. Michka wurde von ihrer Mutter bei der Flucht vor den Nazis bei einer Familie abgegeben, einem Ehepaar auf dem Land, das sich tatsächlich um das seinerzeit siebenjährige Mädchen gekümmert und vor den Razzien beschützt hat.

Marie und Jérôme forschen nun nach, ob es Überlebende gibt, ob sich noch einmal Licht in das Dunkel der frühen Kindheit und Jugend der alten Frau bringen lässt. Auch hier zeigt sich, wie sich Dankbarkeit ausdrückt.

Vigans Romane handeln von Gewalt

Delphine de Vigan entwickelt ihren Roman behutsam, fast ein bisschen zu gemächlich. Die lodernde Intensität von „Loyalitäten“, auch sprachlich, zeigt sich hier nur dezent. Was dem Stoff geschuldet sein dürfte.

Man merkt bei der Lektüre jedoch, wie gut de Vigan sich einfügt in die lange Reihe französischer Autoren und Autorinnen, deren Blick hauptsächlich auf die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in ihrem Land gerichtet ist, wie Annie Ernaux, Virginie Despentes, Nicolas Mathieu und wie sie alle heißen. Delphine de Vigans Romane handeln zuvorderst von Gewalt: von der gegen die am Rand der Gesellschaft, wie „No & Ich“ über das Leben einer jungen Obdachlosen; von der gegen sich selbst wie „Tage ohne Hunger“ über eine Frau, die gegen ihre Magersucht kämpft.

Oder von den seelischen Verheerungen, die das Leben in einer Metropole anrichten kann, wie „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“.

Wie Ursprung und Ende verbunden sind

Die Romane „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“ bauen darauf auf, unter einer anderen Prämisse. Marie zum Beispiel erzählt Michka von dem Film „Die Beschissenheit der Dinge“, und dass sie mit dem Weinen über das Ende dieser Sozialgroteske nicht aufhören konnte. Den „Ursprung der Dinge“ habe sie hier erkannt, berichtet sie, das, „was jeder aus seiner Vergangenheit heraus tut“.

Delphine de Vigans neuer Roman macht das auf seine Weise auch. Er erinnert daran, wie sich Ursprung und Ende zueinander verhalten – und dass die Dankbarkeit für die Lebensleistungen alter Menschen, der Respekt ihnen gegenüber, gar nicht groß genug sein kann. Und dass beides ganz nahe dran ist an der Solidarität, die in diesen Tagen all unser Tun bestimmen sollte.
Delphine de Vigan: Dankbarkeiten.nAus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont Verlag, Köln 2020. 166 Seiten, 20 €.

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