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Die virtuelle Welt ist der Alltag, sie dominiert inzwischen die analoge. Hier eine Installation des Lichtkünstlers Christopher Bauder im Kraftwerk in Berlin. Ihr Titel: „Deep Web“.

© dpa

Neal Stephensons Roman "Corvus": Jenseits von Körper und Geist

Neal Stephenson erzählt in seinem monumentalen Roman „Corvus“ von einer abenteuerlichen Reise in die digitale Welt.

Fantastisch, denkt man nach den ersten Kapiteln von Neal Stephensons neuem Roman „Corvus“: Dieser Grenzgänger zwischen der analogen und der digitalen Welt nimmt einen mit zu einer Reise in die nahe Zukunft, die sich spannender und amüsanter anlässt als das Meiste aus dem Science-Fiction-Genre.

Und wie gewohnt, geht die Reise nicht in eine Zeit, die in absehbarer Weise bestimmt ist von Technik, Bequemlichkeit, Überwachung und Optimierung, von Lieferdiensten, pseudo-intelligenten Kühlschränken und Pflegerobotern. Science Fiction à la Neal Stephenson – das ist ein abenteuerlicherer Weg in eine komplett virtuelle Zukunft, entworfen, entwickelt und designed in gigantischen Rechnern, gelagert auf Serverfarmen, real und programmiert, wirklich und fiktional zugleich.

Die Welt der nahen Zukunft in „Corvus“ wird bestimmt durch Existenzmöglichkeiten jenseits der Körperlichkeit - und der Geistigkeit –, wie wir sie kennen. Erkundet wird sie von dem Internet-Unternehmer Richard Forthrast. Stephensons Protagonist ist ein gemachter Mann: Gründer einer Computerspielfirma, mental längst jenseits allen Erfolgsdenkens, Chef eines Konzerns, der sich nicht mehr dem Verkaufserfolg in der Welt der Gamer widmen muss - das läuft von allein. Richard Forthrast kann sich mit wirklich spannenden Fragen der virtuellen Wirklichkeit befassen.

Er hat keine materiellen Sorgen, sein Büro ist mit einer Yogamatte und dergleichen ausgestattet. Wir lernen Forthrast bei einem langsamen Aufwachen kennen, immer wieder unterbrochen von Phasen des Wegdämmerns. Im Wachwerden grübelt er über den Faden des Bewusstseins – Erinnern, Träumen, Denken –, um abermals wegdämmern.

Keine Angst vor großen Ideen

Ein sympathischer Mann: gelassen, geistvoll, zufrieden. Man wäre gern länger mit ihm unterwegs im Seattle von morgen und übermorgen. Leider wird das Kennenlernen bald unterbrochen: Richard Forthrast, genannt Dodge, stirbt überraschend bei einer scheinbar harmlosen ambulanten Operation.

Über 1100 Seiten lang ist dieser monumentale Roman der Reise des Dodge Forthrast. (Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller. Goldmann Verlag, München 2021. 1152 S., 30 €.)

Stephenson, der einer amerikanischen Wissenschaftler-Familie entstammt, hat sich schon öfter an derart großkalibrige Werke gewagt. Der 62 Jahre alte Autor, ein Mann mit Glatze und langem Kinnbart, hat keine Angst vor großen Ideen, deren fiktive Umsetzung entsprechend großes konstruktives Geschick verlangen. Besonders gut gelungen ist ihm das in dem Science-Fiction-Roman „Error“ (im Original „Reamde“, erschienen 2011).

Darin geht es um eine Entführung, die mit einer Schlacht endet. Ausgefochten wird sie in einer virtuellen Welt. Schon in seinem Roman „Snow Crash“ von 1992 hatte Neal Stephenson eine Geschichte voller Krimi- und Thriller-Elemente in den Vereinigten Staaten der nahen Zukunft inszeniert, in denen von Einigkeit so wenig übrig war wie von Zukunftshoffnung.

Nebenbei erfand er in diesem Roman das „Metaverse“ - einen jetzt in der Werbung beliebten Begriff. Er beschreibt einen Ort im Internet, der von vielen angesteuert, bespielt und bewohnt werden kann – und der heute vor allem ein Marktplatz sein soll, ein Ort des Konsums und des Kaufens.

Hier geht Science Fiction zusammen mit Humor und Ironie

Aber Stephenson ist, jedenfalls seinen Romanen zufolge, kein Pessimist, kein Dystopiker. Er hat die Entwicklung der digitalen Welt über Jahrzehnte begleitet und erforscht. Er hat im Auftrag des amerikanischen Magazins „Wired“ eine Forschungsreise unternommen, bei er die Verlegung von Seekabeln beobachtet – dem Nervensystem des Netzes. Er hat in Tech-Unternehmen gearbeitet und eine Software-Firma mitbegründet. Mit Jaron Lanier, dem Internet-Interpreten und -kritiker aus Berkeley, Kalifornien, spricht er über seine Texte, wie dem Nachwort von „Corvus“ zu entnehmen ist.

Stephensons Hauptdarsteller sind coole Frauen und Männer, die sich mit den düsteren Aspekten ihrer Lebensumstände, mit Überwachungstechniken, privaten Sicherheitsdiensten, der Schwäche des Staats und der Macht des Geldes arrangieren und ihren Weg machen in Digitalien.

Bei Stephenson geht Science Fiction zusammen mit Humor und Ironie. Richard „Dodge“ Forthrast, der Unternehmer aus Seattle mit der Freude an großen Ideen, nennt das Internet „Miasma“, was man mit „Pesthauch“ oder „giftigem Dunst“ übersetzen kann.

Oder – die andere Seite des Humors von Neal Stephenson - die Kurzversion der großen Idee, an der Dodge Forthrast bis zuletzt herumgedacht und herumgearbeitet hat: das Weiterleben im Jenseits. Wie stellt sie sich dar – die „Disruption des Todes“? Disruption, der Bruch mit dem gewohnten Denken und Machen ist beliebt bei den Techies aus Seattle oder dem Silicon Valley.

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Warum überhaupt den Tod akzeptieren? „Wenn man nämlich jeden Feind bezwungen und unterwegs unendlich viel Geld verdient hatte und sich dabei ertappte, wie man einen Happen Sushi oder ein Schlückchen dreißig Jahre alten Single Malt genoss, warum sollte man sich dann nicht fragen, was der Möglichkeit, solche Dinge auf ewig zu genießen, grundsätzlich im Wege stand.“

Womit wir schon beim weniger amüsanten Teil der Reise wären. Denn in der Folge von Dodges Tod zerfällt „Corvus“ in zwei große Erzählstränge.

Der eine, spannendere, handelt vom Umgang seiner Nachfahren mit dem, was er für den Todesfall verfügt hat: tiefkühlen, aufbewahren, bis es möglich ist, sein Bewusstsein, seinen Geist, sein analoges Sein als Datensatz zu speichern und ihn wiederzuerwecken zu einer postmortalen Existenz.

Diesen Strang entwickelt Neal Stephenson in gewohnter Manier: mit breitem technischem Wissen über das, was geht; ironisch im Umgang mit den Streitigkeiten der Nachfahren und Erben. Und mit Gefühl für die Situation, zugleich zu trauern und zu hoffen, abzuschließen und zu ermöglichen. Faszinierend.

Eine Schöpfungsgeschichte des Internetzeitalters

Zusätzlich gibt es den postmortalen Strang der neue Existenz von Dodge: in einer Welt aus Datensätzen, angesiedelt auf gigantischen Serverfarmen, ein digitales Jenseits, genannt „Bitworld“ - eine neue Welt, in der allerdings keine Rede ist von der erwähnten Sinnlichkeit guten Sushis und dreißig Jahre alten Single Malt Whiskys.

Den zweiten Strang erzählt Neal Stephenson, als sei er plötzlich ein anderer Autor geworden: einer, der das Fabulieren liebt wie einst Karl May, das lange, langsame Beschreiben von mystischen Landschaften, das Schreiben um des Schreibens willen, gehalten in einem monotonen Sound, fast absatzlos über viele lange Seiten. In dieser Welt heißt Dodge nicht mehr Dodge, sondern Egdod.

Er ist zunächst allein, ein Wesen in einer Welt, deren Entstehung er durch Erinnerungen und Vorstellung vorantreibt.

Es ist, als habe Neal Stephenson eine Schöpfungsgeschichte des Internetzeitalters verfassen wollen, angelehnt an die Entwicklung einer Landschaft für ein Videospiel. Eine Landschaft, in der die Zeit langsam und noch langsamer vergeht und die Schöpfung sich manchmal über Wochen nicht entwickelt. Über viele, viele Seiten liest sich dieser Teil von „Corvus“ auch so: langatmig.

Wie so oft bei Neal Stephenson geht es letzten Endes um einen archaisch anmutenden Konflikt zwischen Dodge und einem Widersacher. Der ist, wie Dodge, aus der analogen in die „Bitworld“ hinüber gestorben und existiert dort als herrschsüchtiger Datensatz weiter. Der finale Kampf der beiden, immerhin, macht aus Corvus eine runde, wenn auch streckenweise zähe Geschichte.

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