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Die britische Schriftstellerin Natasha Brown.

© Elise Brown/Suhrkamp Verlag

Natasha Browns Roman "Zusammenkunft": Ein Windhauch Brutalität

Der Aufstieg einer jungen Frau im London der Gegenwart:„Zusammenkunft“, der gefeierte Debütroman der britischen Schriftstellerin Natasha Brown.

In der britischen Literatur ist sie ein Topos, die Katastrophen-Party, und dazu braucht es gemeinhin weder eine Pandemie noch eine Regierung im freien Fall.

Nirgendwo kann man sich leichter blamieren als bei einer Zusammenkunft, die als Amüsement gilt und scheinbar nichts als Lockerheit verlangt. Umso besser muss man die Regeln kennen, um den schmalen Grat zwischen Anstand und Exzess zu treffen, den die Gastgeber gemeint haben könnten.

Das Werk des britischen Schnösel-Ironikers Edward St Aubyn ist gespickt mit Szenen, die den hauchfeinen Unterschied zwischen einer im Entgleisen gelungenen Party von der entgleisten Komplett-Katastrophe schildern. Danach beginnt der Punk.

Wahrscheinlich gibt es keine Gesellschaft, bei der ein aus vergangener Empire-Größe genährter Snobismus zu vergleichbarer Selbstüberschätzung führt wie die britische, zumal die forcierte Reglementierung der Sitten oft genug mit der Überheblichkeit rücksichtsloser Derbheit einhergeht. „Zusammenkunft“ heißt folgerichtig das gefeierte Debüt der britischen Schriftstellerin Natasha Brown.

(Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.118 Seiten, 20 €.)

Mit exzellenter Treffsicherheit nimmt sie den Zusammenhang von White Supremacy, Rassismus, Sexismus und Klassismus ins Visier. „Assembly“, wie der Titel des 2021 erschienen Originals lautet, erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg einer jungen Schwarzen Frau, die es bis zur Führungsposition in einer Bank gebracht hat und sich dennoch ständigen Abwertungen ausgesetzt sieht, auch wenn der ein oder andere meint, es handle sich um Komplimente.

Jackie Thomae hat den Roman übersetzt

Natasha Brown, Anfang dreißig, hat Mathematik in Cambridge studiert und arbeitete selbst in Londons Finanzbranche. Sie schildert die Erfahrungen ihrer Erzählerin in einer klaren, knappen, kraftvollen Prosa, die Jackie Thomae stilsicher ins Deutsche übertragen hat.

Wie Abzüge analoger Fotos, die zum Trocknen auf einer Schnur hängen, reiht sich in einer Art Prolog Szene an Szene. Es sind perspektivisch zugespitzte Situationen, klar zu erkennen in der Szenerie, den Rollen und den Dialogen.

Etwa wenn sie mit sechs Kollegen, allesamt Männer, zum Lunch geht und einer der Älteren, „fett, mit dichtem, angegrautem Bart“, die Gabel zur Seite legt, um genüsslich die Bemerkung auszukosten, er wisse, dass sie „keine von denen“ sei, die das ausnützen, aber sie müsse trotzdem zugeben, dass sie „im Vorteil“ sei. Er grinst, lehnt sich zurück, die anderen nicken, dann schaufelt er weiter.

Ein Vorgesetzter ruft sie ins Büro, Glas von allen Seiten, er setzt sich, fordert „Reife“ und „ein bisschen Wertschätzung“ von ihr, steht auf, streift sie, obwohl das Büro groß genug ist, und sagt, während er bereits die Bürotür öffnet, sie solle an „ihre Zukunft“ denken und was „sein Wort“ hier zähle.

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In einer anderen Szene ruft er (oder ein anderer) sie an und beschreibt am Telefon, was er von ihr sieht (ihre Haare, ihre Haut, ihr Ausschnitt). Dabei fordert er sie auf, kleine Handlungen auszuführen, die er wiederum kommentiert. „Es war nichts“, versucht sie sich zu beruhigen, bevor die eigentliche Erzählung beginnt.

Der Bilderreigen einer ausgeweiteten „Kampfzone“, die glänzender und in gewisser Weise infamer ist als die nihilistische Welt des französischen IT-Angestellten, den Michel Houellebecq Anfang der neunziger Jahre in seinem sprichwörtlich gewordenen Roman porträtierte, steuert auf die Klimax zu, die Browns Roman seinen Titel gibt.

Die namenlos bleibende Erzählerin hat alles aus eigener Kraft erreicht. Sie hat studiert, als erste in ihrer Familie, die Last der Hoffnung von Generationen auf ihren Schultern verspürend, mitsamt den Entbehrungen und Demütigungen.

Sie hat Überstunden gemacht, hält neben ihrer Arbeit Vorträge in Schulen und ist bei all den „Bullshit-Meetings“ stets besser präpariert als ihre weißen männlichen Kollegen – um sich dann doch, wenn diese vorgeben, eine Espressomaschine nicht bedienen zu können, dazu hinreißen zu lassen, Kaffee auszuschenken. Sie verdient genügend Geld, um ihr „soziales Kapital“ erhöht zu haben, längst hat sie ihre Klamotten und ihre Aussprache perfektioniert.

Eine schneidende Form von Klarheit

Vor kurzem hat sie eine Wohnung in einem georgianischen Townhouse gekauft, in einer „vielversprechenden Gegend“. Alles scheint rund zu laufen. Und doch fühlt sie sich abgrundtief erschöpft. Als ihre Ärztin einen Tumor diagnostiziert und zu umfassender Behandlung rät, sieht sie in Metastasen nicht unbedingt eine Bedrohung. Wären sie nicht auch eine Möglichkeit, aus dem Hamsterrad auszusteigen? Für immer?

Ihren Freund lässt sie im Glauben, die Diagnostik habe nichts ergeben. Er kommt aus der Upperclass und arbeitet in der Politik. Wenn er ein Restaurant betritt, schmettert er seinen Namen so unnachahmlich in die Gegend, dass jeder weiß, hier kommt einer, der weiß, dass die anderen wissen, wer er ist.

Mit einer Mischung aus Respekt und Verzweiflung beobachtet sie, mit welcher Geschmeidigkeit er seinen Ton und Habitus an jede Situation anpasst, ob er mit dem Chauffeur spricht oder mit seinen Freunden.

Das alles ist mit absoluter Transparenz konstruiert. Die Theoreme dahinter sind leicht zu erkennen, von Pierre Bourdieu über Frantz Fanon bis hin zu bell hooks, der letzten Dezember verstorbenen US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Denkerin des antirassistischen Feminismus, die Natasha Brown im Anhang erwähnt.

Trotz einer gewissen Schablonenhaftigkeit käme man nie auf die Idee, diesen Roman glatt zu nennen. Er erzeugt eine schneidende Form von Klarheit, etwa wenn er den „Windhauch Brutalität“ beschreibt, die andauernden Mikroaggressionen, der die Erzählerin ausgesetzt ist. „Es ist so viel einfacher für euch Schwarze und Hispanics“, sagt ein durchschnittlicher Kollege, der sich bei der Beförderung übergangen fühlt. „Er sagt, dass er nichts gegen Diversität hat. Er will einfach nur Gerechtigkeit, okay?“

Im Gefolge von Zadie Smith und Hanif Kureishi

Das London von „Zusammenkunft“ ist ein anderes als das bunte, vielfältige, chaotische, das Zadie Smith 2000 in ihrem fulminanten Debüt „White Teeth“ illuminierte, und erst recht als das London der siebziger Jahre, das Hanif Kureishi 1990 in seinem Roman „The Buddha of Suburbia“ beschrieb.

Das liegt nicht allein daran, dass Browns Roman in der Gegenwart spielt, sondern auch am Aufstiegswillen der Protagonistin. Sie arbeitet in einer Bank, weil sie verstanden hat, was Banken sind: „Erbarmungslose, effiziente Geldmaschinen mit dem Nebenprodukt sozialer Mobilität.“

Als sie von den Eltern ihres Freundes als „aktuelle Herzensdame“ des Jüngsten zur Feier des Hochzeitstages auf dem Landsitz der Familie eingeladen wird, sieht sie darin durchaus die Chance, ihren Aufstieg zu besiegeln. Doch will sie das überhaupt? Das Fest ist die „Zusammenkunft“, auf die der Roman zuläuft.

Die Vorbereitungen sind schon in Gang, als sie mit dem Zug ankommt. Das Personal hält sie für Verstärkung. Die Mutter lässt sie spüren, dass sie nicht zur Familie gehören soll.

Es ist eine wohl kalkulierte „Wuthering-Heights“-Szenerie und vielleicht auch eine kleine Verbeugung vor Amanda Gorman, wenn Natasha Brown ihre Protagonistin auf einen Hügel schickt, um die Sache von oben zu betrachten. „Scheiß drauf“, sagt ihr Freund, als er sie findet. „Lass uns heiraten.“

Kein Wunder, dass offen bleibt, ob sie Ja sagen wird. Natasha Brown hat ihren Finanzjob zugunsten des Schreibens aufgegeben. Gut möglich, dass daraus auch eine Karriere wird.

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