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Kultur: Nach dem Amoklauf: "Wir können die Gesellschaft ändern"

Nach dem Amoklauf von Erfurt stehen Gewaltdarstellungen in den Medien erneut zur Debatte. Sie enthemmen potenzielle Täter, heißt es.

Nach dem Amoklauf von Erfurt stehen Gewaltdarstellungen in den Medien erneut zur Debatte. Sie enthemmen potenzielle Täter, heißt es.

Zum Thema Fotostrecke: Amoklauf in Erfurt Dokumentation: Die folgenschwersten Bluttaten an Schulen Hintergrund: Gewalt gegen Lehrer in Deutschland Wir dürfen dieses schreckliche Ereignis nicht vorschnell für Patentlösungen instrumentalisieren. Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, welche politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen Gewaltbereitschaft fördern oder senken, damit wir in Deutschland nicht eine Entwicklung nachholen, die in den USA schon sehr weit gediehen ist. Die öffentlichen Schulen in größeren Städten sind dort gesichert wie Gefängnisse. Ähnliches zu verhindern, ist eine kulturelle Herausforderung. Ich möchte dafür werben, dass wir uns dieser Herausforderung stellen.

Was heißt das konkret?

Die Erwartung, Gewaltakte auszuschließen, kann nicht in Erfüllung gehen. Aber wir können gesellschaftliche Bedingungen verändern. In den skandinavischen Ländern liegt der Akzent stärker auf Fürsorge, in den angelsächsischen Gesellschaften, insbesondere den USA, steht das Wettkampfprinzip im Vordergrund. Dabei muss die Balance in der Schule als sozialem Raum gewahrt bleiben: Schulen sind kein Hort der Harmonie, kein Kuschel-Schonraum. Sie müssen auf ein Leben vorbereiten, in dem es Konflikte und existenziell bedrohliche Situationen gibt.

Der Kanzler trifft sich heute mit Fernsehchefs, um mit ihnen über eine Begrenzung von Gewalt im Fernsehen zu sprechen. Sind Sie dabei?

Ja. Ich denke, Gegenstand dieses Gesprächs mit den Intendanten muss unsere gemeinsame Verantwortung sein. Ich persönlich kann die starke Fokussierung auf Gewalt schon bei Kindersendungen nicht nachvollziehen. Man braucht sich nur das Programm vom Sonntagvormittag anzuschauen: In fast allen Sendungen für die Altersgruppen zwischen 3 und 16 findet Gewalt statt. Gewiss ist das nicht Ursache, aber doch Ausdruck eines kulturellen Klimas.

Eine Selbstbeschränkung der Sender?

Freiwillige Selbstkontrolle findet in den Rundfunksendern ja bereits statt, es kommt darauf an, sie noch zu verstärken. Wir sehen seit längerem beim Jugendmedienschutz Reformbedarf, und uns - Bund und Ländern - ist es in diesem Jahr gelungen, Eckpunkte für eine effektivere Selbstkontrolle im Medienbereich festzulegen. Der Paragraf 131 des Strafgesetzbuches verbietet zwar Produktion und Verbreitung gewaltverharmlosender und -verherrlichender Medien. Aber insbesondere das Internet stellt neue Anforderungen an den Gesetzgeber. Viele verbotene oder indizierte Produktionen sind per Mausklick frei verfügbar.

Medienforscher sagen, Gewalt sei hip, nicht nur in unserer Jugendkultur...

Es ist gut, sich die Statistik anzuschauen. Eine DFG-Studie zur Gewalt an den Schulen besagt, dass es in Deutschland, vor allem an Haupt- und Sonderschulen sowie in sozial unterprivilegierten Schichten einen Anstieg von Gewalt unter Jugendlichen gibt. Dort ist das Gewaltpotenzial vier- bis fünfmal so hoch wie an Gymnasien. Das zeigt die Dimension des Themas: Verunsicherung, Ich-Schwäche, Zukunftsangst bündeln sich bei jungen Menschen zu Krisensituationen.

Der Amokschütze war Gymnasiast. In einer gewaltarmen Gesellschaft ist es leichter, mit Gewalt Aufmerksamkeit zu erregen.

Auch für Gebildetere und sozial besser Gestellte gilt, dass ein ausreichendes Selbstwertgefühl, Respekt und Anerkennung durch andere und die Einbindung in ein festes soziales Umfeld die Gewaltbereitschaft in Situationen seelischer Not mindern. Wir können keine Veränderung des Medieninteresses verordnen. Aber wir sollten uns fragen, wie es kommt, dass auch die Nachrichten den Fokus vorrangig auf Gewalttaten lenken. Nach welchen Kriterien stufen wir ein Ereignis als bedeutend ein? Woran liegt es, dass 14-Jährige bereits über 10 000 Morde auf dem Bildschirm gesehen haben?

Muss Medienerziehung nicht endlich Teil der Lehrpläne werden?

Bei der von mir vorgeschlagenen Reform der Filmpolitik spielt dies eine wichtige Rolle. Erst die bewusste Auseinandersetzung mit dem Medium Film befähigt zu einer distanzierten Betrachtung und zur Trennung von Fantasie und Realität, zu der die Mehrzahl ja mit zunehmendem Alter durchaus in der Lage ist. Die Auseinandersetzung mit den Medien muss auch in unseren Bildungseinrichtungen stärker verankert werden.

Nach dem Amoklauf von Erfurt stehen Gewaltdarstell

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