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Die Schriftstellerin Myriam Leroy

© Edition Nautilus

Myriam Leroys Roman „Rote Augen“: Das Gift aus dem Internet

Die belgische Journalistin und Schriftstellerin schildert in ihrem neuen Roman deutlich, wie zerstörerisch Hetzjagden in den Sozialen Medien sein können.

Fast alle, die in der Öffentlichkeit stehen, dürften es schon erlebt haben: Shitstorms und Beleidigungen, die besonders leicht und effektiv in der Anonymität der sozialen Medien gedeihen, brechen zuweilen mit ungeahnter Wucht über exponierte Menschen herein.

Besonders Frauen bekommen den ungezügelten Hass von männlichen Trollen ab. Erinnert sei etwa an die verbalen Entgleisungen und Drohungen gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast, die zunächst von den Gerichten als zulässige Meinungsäußerungen bewertet wurden. Erst das Bundesverfassungsgericht hob die vorangegangenen Urteile auf. Künast bekam schließlich Recht.

Ähnliches ist Myriam Leroy widerfahren. Sie ist eine belgische Journalistin und Autorin, die sich seit den 2010er Jahren aufgrund ihrer Arbeit mit misogynen Aggressionen und sexistischen Kommentaren konfrontiert sieht. Sie hat darüber zusammen mit Florence Hainaut den Dokumentarfilm „#dreckshure“ gedreht und nun einen Roman geschrieben, in den die eigenen Erfahrungen eingeflossen sind.

„Rote Augen“, so der Titel des Buches in der deutschen Übersetzung von Daniela Högerle, macht aber zugleich auf bemerkenswerte Weise die allgemeinen Mechanismen solcher Hetzjagden im Netz kenntlich.

„Er heiße Denis und freue sich sehr, meine Bekanntschaft zu machen.“ So wird der Eindringling ins Leben der Erzählerin vorgestellt. Er sei Hörer ihrer Radiosendung, schätze ihre Arbeit und verfolge sie genau. Er finde sie, die Radiomoderatorin, sehr charmant, schreibt dieser Denis; er könne in ihrer Erscheinung etwas Trauriges entdecken, das seine Neugierde geweckt habe.

Nein, anbaggern wolle er sie nicht. Harmlos und aufdringlich zugleich beginnt dieses zermürbende Duell. Da die Moderatorin auf ihren Bewunderer nicht arrogant wirken will, antwortet sie auf die Zeilen – distanziert, aber höflich. Denis nimmt das zum Anlass, ihr erneut und immer wieder zu schreiben, ihr eine Freundschaftsanfrage zu schicken, Intimes aus seinem Leben preiszugeben und sie an seinen verächtlichen, kruden Ansichten teilhaben zu lassen.

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Der indiskrete Fan arbeitet als Verwaltungsangestellter; nebenbei postet er für seine kleine Internet-Bubble als Denis the Menace unappetitliche Kommentare zu Medienschaffenden und politischen Ereignissen – und erfährt dafür von der Community Zustimmung. Die Erzählerin ermuntert ihn keineswegs, bleibt reserviert, will es sich aber auch nicht mit ihm verscherzen.

Sie ahnt, dass sie ihn sich durch ein unbedachtes Wort zum öffentlichen Feind machen könnte, und natürlich hat sie wenig Lust auf sein hasserfülltes Geschwurbel. Die Strategie geht allerdings nicht auf. „Ob es ein Problem gebe? Er habe gesehen, dass ich ihn von meiner Facebook-Freundesliste entfernt hätte. Ob er etwas gesagt oder getan habe, das mir nicht gefalle?“

Bittere Dynamik

Tatsächlich missfällt der Angeschriebenen einiges, und das meiste davon ist nicht mehr tolerierbar. Die Erzählerin bricht den Kontakt ab, die Situation kippt und eskaliert. Denis verbreitet nun Lügen über sie, beleidigt die Journalistin in den sozialen Medien, immer gerade so, dass er juristisch nicht belangt werden kann. Obwohl ihr die Freunde raten, die Invektiven des Stalkers zu ignorieren, perlen sie nicht an ihr ab. Sie nimmt sich einen Anwalt, will sich wehren.

Aber jeder Schritt, den sie unternimmt, führt sie tiefer hinein in den Wahnsinn einer wütenden Kampagne. Ihre Beziehung leidet darunter, sie wird krank. Und das Verständnis ihrer Umwelt, soweit überhaupt vorhanden, schwindet zusehends. Wenn einer mit solchem Hass reagiert, dürfte sie ja nicht ganz unschuldig daran sein, vermuten manche Freunde.

Es entsteht eine bittere Dynamik, die einem beim Lesen Beklemmungen bereitet. Und das liegt nicht zuletzt an einer stilistischen Entscheidung von Leroy: Der Großteil des Buches wird in indirekter Rede erzählt. Das erzeugt einen leicht schwankenden Grund. Das Hörensagen regiert, die Kolportage, das Ungewisse. Und zugleich werden die Unsicherheiten immer verstörender.

Schließlich passiert das Schlimmste, was einer Mobbing- und Shitstorm-Zielscheibe geschehen kann: Der Täter stilisiert sich zum Opfer – und kommt damit sogar durch. Dass diese peinigende, nahegehende und hochaktuelle Geschichte sich jedes Jahr tausendfach in unseren digitalen Parallelwelten abspielt, macht den Roman „Rote Augen“ umso bedrängender. Eindrucksvoll demonstriert er, dass das mehr oder minder anonym im Internet zirkulierende Gift die Körper und Gedanken realer Personen befallen und zersetzen kann. Ja, dass es fähig ist, ein Leben zu zerstören.

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