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Nelsons am Pult des Gewandhausorchester Leipzig

© Foto: Fabian Schellhorn

Musikfest Berlin 2022: Der Zorn Gottes

Andris Nelsons und das Gewandhausorchester gastieren mit einem anspruchsvollen Programm beim Musikfest

Um sowohl Bach-Kantaten als auch Opernaufführungen und Symphoniekonzerte ohne Abstriche spielen zu können, verfügt das Gewandhausorchester Leipzig über den größten Stellenplan aller deutschen Klangkörper. 185 Musikerinnen und Musiker bilden ein Ensemble, aus dem eine große Abordnung unter Leitung von Andris Nelsons zum Musikfest Berlin angereist ist.

Der 21. Gewandhauskapellmeister liebt es reichhaltig und umgibt sich in der Philharmonie mit einer extrasatten Streicherbesetzung. Nelsons selbst hat bei seinem transatlantischen Chefspagat zwischen Boston und Leipzig an Fülle zugelegt, seine einstmals jugendliche Ausstrahlung wirkt mit nur 44 Jahren vor der Zeit gealtert. Neinsagen gehört sicher nicht zu seinen Begabungen, gerade erst hat er in Salzburg und Bayreuth dirigiert.

Der Dirigent vertraut auf sein Orchester

Doch so schwer und erstarrt Nelsons zunächst wirkt, selbst beinahe regungslos vermag er den Leipzigern noch seine Sicht zu vermitteln. Schostakowitschs Kammersymphonie c-Moll op. 110a für Streichorchester spitzt er nicht auf die offensichtliche Dramatik harter Repetitionen zu.

Die Trauer um die Opfer des Krieges lässt sich nicht bewältigen, deutet Nelsons an. Vielmehr gewinnt sie immer neue Facetten und senkt sich leise umso tiefer ins Herz. Der Gewandhauskapellmeister vertraut darauf, dass sein Orchester die Spannung zu halten vermag und die brüchig gewordene Menschlichkeit noch einmal aufglimmen lässt.

Nelsons erweist sich als instinktsicherer Musikdramatiker, der einen roten Faden spinnt von Schostakowitsch zu Sofia Gubaidulinas „Der Zorn Gottes“. Die 90-jährige Komponistin russisch-orthodoxen Glaubens lässt keinen Zweifel daran, dass wir ihn verdienen. Apokalyptisch tönt ihr alles zermalmender Choral aus Wagner-Tuben und Kontrabassposaunen, so, als ginge es direkt zum letzten Gericht.

Doch Gubaidulinas zu Demut mahnende Musik spiegelt vor allem ein Kommunikationsversagen, entwirft eine willkürliche Welt, die den Menschen unerklärlich bleibt, weil sie das Zwiegespräch mit Gott unterbrochen haben. In Nelsons, der das Werk bereits auf CD aufgenommen hat, findet die Komponistin den idealen Interpreten.

Nach der Pause soll mit Beethovens Siebter das Kernrepertoire belüftet werden, in großer Besetzung, mit ordentlich Druck und Zug. Obwohl das nicht immer aufgeht, spielt das Gewandhausorchester mit Hingabe für den körperlich erwachten Chef. Auch wenn seine Gesten eine andere Sprache sprechen: Nelsons nimmt sich bei Beethoven mehr von seinem Orchester als er ihm gibt.

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