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Seine Werke wecken tierische Assoziationen: Der Schweizer Komponist Micheall Jarrell.

© C. Daguet / Editions Henry Lemoine

Michael Jarrell stellt in Berlin seine Stücke vor: Der Klang von Platzhirschen und Grummelbären

Die Werke des Schweizer Komponisten Michael Jarrell wuchern wurzelhaft und wecken tierische Assoziationen. In Berlin hat er eine Auswahl vorgestellt.

Bis er anfängt, vergeht noch ein Jahr. Aber schon jetzt stellt sich Vladimir Jurowski, künftiger Chef des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, in kleineren (und größeren) Konzerten seinem Publikum vor. Darunter ein Abend, der – wie sympathisch – ausschließlich einem zeitgenössischen Komponisten gewidmet ist. Der Schweizer Michael Jarrell hat 1994 mit der Christa-Wolf-Vertonung „Cassandre“ auf sich aufmerksam gemacht, gerade war er ein Jahr Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. „Rhizomatisches Komponieren“, mit diesem Stichwort könnte man seine Arbeit zusammenfassen: ein wurzelhaft wucherndes musikalisches Denken, das sich immer von einem Punkt anregen lässt und mit diesem auch während des ganzen Prozesses verbunden bleibt.

In „Modifications“ (1987) ist dieser Ausgangspunkt die fast gleichnamige Erzählung von Michel Butor, in der ein Mann während einer Reise von Paris nach Rom seinen ursprünglichen Plan, die Geliebte nach Hause zu holen, aufgibt. Gedankenwindungen, die in Jarrells Stück das Klavier (Yoriko Ikeya) repräsentiert. Es durchläuft klangliche Entwicklungsstufen vom Platzhirsch zum im Tutti eingehegten, gezähmten Lamm. Tierische Assoziationen drängen sich auch bei „Droben schmettert ein greller Stein“ (2001) auf, dem eigentlich eine Verszeile des expressionistischen Dichters und „Postinspektors“ August Stramm (1874-1915) zugrunde liegt. Im solistischen Kontrabass (Matthias Bauer) erinnert es aber vor allem an einen Grummelbären, der schlummernd vor seiner Höhle liegt, dann aufwacht, der Ton wird härter, bröckeliger – und wieder davontappt. Die Live-Elektronik mit Jarrell selbst am MIDI-Keyboard tut ihr Übriges, das schwankende Gefühl von Hallraum, Echo und Nicht-Lokalisierbarkeit zu verstärken.

Im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses übersetzen Jurowski und das Ensemble unitedberlin, dessen künstlerischer Berater er ist, die Vorgaben der Partituren sehr prägnant, pointiert, engagiert in Musik – auch beim letzten Stück des Abends, „Music for a While“ (1995). Jarrell nimmt die ersten vier Takte des Bassthemas von Purcells berühmter Ayre (Aria) aus der Bühnenmusik zu „Ödipus“, transformiert, verflüssigt sie. Einen Solopart gibt es hier nicht mehr, alles ist Auflösung, Fragmentierung. Nach einem friedlicheren Mittelteil die Reprise des Beginns – und verwehen. Klänge, die zur Analyse einladen, wenn sie auch nicht unbedingt zu Herzen gehen. Schade nur, dass Geiger Andreas Bräutigam im Gespräch mit Michael Jarrell beharrlich nur über dessen Leben plaudern will – und nicht über die Stücke selbst. Warum eigentlich nicht?

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