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Norwegian writer Jon Fosse photographed in Stockholm, Sweden, October 21, 2021. Photo Jessica Gow / TT code 10070 STOCKHOLM Sweden PER x10070x PUBLICATIONxNOTxINxDENxNORxSWExFIN Copyright: xJessicaxGowx JON FOSSE

© imago images/TT

Metaphysische Mantras: Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis

Dramatiker, Dichter, Erzähler, Mystiker: Mit dem Norweger wird ein Schriftsteller von biblischer Wucht ausgezeichnet.

Von Gregor Dotzauer

Das Und in der Literatur ist die gefährlichste aller Konjunktionen. Innerhalb des syntaktischen Gefüges ist es der billigste Trick, um durch bloße Hauptsatzreihung eine trügerische Fülle zu erzeugen, die mit sehr viel mehr Mühe eigentlich erst durch ein Wenn, ein Während oder ein Nachdem entsteht. Das Und ist der sprachliche Brandbeschleuniger eines Schreibens, das anderweitig nicht vom Fleck kommt. Angesichts der schier unendlichen Zahl von Unds, die Jon Fosses Prosa durchziehen, könnte man sie zunächst als das schnellste Erzählen missverstehen, das derzeit zu haben ist.

Das Gegenteil trifft zu: Kaum ein Schriftsteller der Gegenwart wälzt sich in seinen Sätzen so langsam durch die Bewusstseinsschichten seiner Figuren wie er. Das Und ist auch nicht einfach additiv zu verstehen. Es weist, auch wenn sich der daran geknüpfte Zeitpfeil nicht einfach umdrehen lässt, keineswegs nur nach vorne. Im assoziativen Getriebe transportiert es einen zugleich in die tiefste kindliche Vergangenheit. Vor allem ersetzt es in diesem nach allen Richtungen offenen, mit Kommata und Fragezeichen gespickten Textgewebe, das einzige Satzzeichen, das es bei Jon Fosse nicht gibt: den Punkt.

Die aktuelle Heptalogie, also die sieben Romane umfassende Romanfolge, die man als Höhepunkt von Jon Fosses Dramen, Gedichte, Kinderbücher und einige Essays umfassendem Werk betrachten kann, ist dennoch alles andere als eine beschwerliche Lektüre. Sie mag in ihrer existenziellen Düsternis mitunter beklemmend sein, doch wer sich einmal auf den sanft archaisierenden Ton dieses Norwegers eingelassen hat, folgt ihm mit unaufhaltbarem Zutrauen.

Auf Rimbauds Spuren

Fünf Teile dieses auf drei Bände verteilten Zyklus sind in Hinrich Schmidt-Henkels glänzender Übersetzung bisher auf Deutsch bei Rowohlt erschienen: „Der andere Name“ machte 2019 den Auftakt, im vergangenen Jahr folgten die Teile drei bis fünf unter dem von Arthur Rimbaud übernommenen und hier doch noch einmal in aller Abgründigkeit ausbuchstabierten Titel „Ich ist ein anderer“, im Dezember soll „Ein neuer Name“, der im Original bereits vorliegende Abschluss, folgen. Wobei in dem Spiegelkabinett, das Fosse entwirft, Begriffe wie Anfang und Ende reichlich überflüssig sind. Oder soll man es ein Theater der Stimmen nennen, in dem der Autor und seine Figuren schwer bestimmbare, wechselnde Plätze einnehmen?

Asle und Asle, die beiden gleichnamigen Maler, die hier neben dem Fischer Asleik auftreten, sind zweifellos Emanationen ihres Schöpfers. Der eine erfolgreich und anerkannt, obgleich als Witwer hoffnungslos vereinsamt, der andere ein verlorener Säufer: Verkörperungen von Seelenzuständen, die Fosse als mögliche Ausfaltungen seiner selbst in doppelter Gestalt inszeniert und teilweise durchlaufen hat, doch keineswegs ans Autobiografische knüpft. Im permanenten Dämmerlicht, das in diesem historisch wie geografisch unsicheren Raum herrscht, könnte man sich an Georg Trakls Herbstmusik erinnert fühlen, die Asle einmal in Buchform überreicht bekommt; oder gleich an Samuel Beckett, dessen Erzählungen er ebenfalls erhält.

Es war schon immer mehr als ein handliches Etikett, wenn man den 1959 geborenen Schriftsteller als norwegischen Beckett bezeichnete – nicht zuletzt, weil Fosses zu Beginn seiner Karriere auch in Deutschland vielgespielten Dramen und die Epik sich von Grund auf allen Gattungszuordnungen widersetzen. Sie sind Text in den verschiedensten Aggregatszuständen. Insbesondere von seinen Theaterstücken hat Jon Fosse immer gerne behauptet, sie gehörten, lange bevor von Postdramatik die Rede war, eigentlich dem Reich der Poesie an.

Positiver Gottesbegriff

Fosse ist Beckett, ohne dass er dies ausdrücklich thematisiert hätte, aber auch durch die Erkundung einer Schwelle verbunden, die sich über das allmähliche Verstummen bis zum Sterben und zum Tod fortsetzt. Doch wo Beckett sich in einer Art negativer Theologie übt, die mit der Bezeichnung des Absurden auf einen zweifelhaften Nenner gebracht wurde, gibt es bei Fosse sehr wohl einen positiven Gottesbegriff. Aus einer Familie von Quäkern stammend, wuchs er auf einem Hof in Hardanger im Süden der Provinz Vestland auf: Die Vorstellung eines inneren Lichts, das sich ohne jede amtskirchliche Autorität allein in der Gemeinschaft gläubiger Laien zeigt, hat ihn geprägt. Nach einem Umweg über das Grau des Protestantismus konvertierte er 2013 zum Katholizismus – allerdings nicht zu dessen reaktionärer Form. Fosse neigt eher einer christlichen Mystik zu, für die mittelalterliche Denker wie der von ihm vielfach genannte Meister Eckhart stehen.

Von den gebetsartigen Wiederholungsschleifen, in denen sich seine Prosa verfängt, darf man sich dabei nicht täuschen lassen.  So ausführlich er in seiner Heptalogie das Vaterunser und – im lateinischen Original – den Rosenkranz zitiert, handelt es sich in diesen Passagen doch um ein ritualisiertes, seiner unmittelbaren semantischen Bezüge entkleidetes Sprechen, das sich näher am Mantra als an der Mutter Gottes bewegt. Es ist auch diese in der Literatur rar gewordene metaphysische Ebene, die gemeint ist, wenn ihm die Schwedische Akademie zu Stockholm in diesem Jahr den Literaturnobelpreis verleiht, weil er „dem Unsagbaren eine Stimme“ verleiht.

Der stilistische Minimalismus, der ihm schon bei zahlreichen vergangenen Auszeichnungen zugute gehalten wurde, hält dabei durchaus Schritt mit einem quasibiblischen Maximalismus, den man in seiner Heimat, wo er lebenslanges Wohnrecht in der staatlichen Künstlerresidenz Grotten genießt, vielleicht besser versteht als anderswo. Man kann diesen Maximalismus sogar wörtlich nehmen: Fosse hat an der jüngsten Bibelübersetzung ins Norwegische mitgearbeitet. Schon seine „Trilogie“ variierte in den Figuren Alida und (noch einmal) Asle die Erzählung von Maria und Josef. Zwischen der packenden Rhythmisierung und dem pathetischen Raunen durchquert Fosse dabei ein Feld von hohem Risiko.

Im spontanen Fluss

Seinen Schreibprozess beschreibt er bei alledem als ungeplant. Wie bei Peter Handke, den er übersetzt hat, findet er erst auf dem Papier in der direkten Auseinandersetzung mit der Sprache statt – immer in der Hoffnung, in einen Fluss zu geraten, in dem nicht er die Gedanken steuert, sondern von ihnen ergriffen wird. Teil dieses Abenteuers zu werden, auf das sich hierzulande anders als in der angelsächsischen und skandinavischen Welt bisher nur wenige eingelassen haben, ist eine willkommene Aufforderung, die der Schwedischen Akademie nicht jedes Jahr gelingt.

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