zum Hauptinhalt
Elegant abgetaucht. Buckelwal in der Dominikanischen Republik.

© IMAGO/YAY Images/IMAGO/korzun

Melvilles „Moby Dick“ und Aronofskys Film „The Whale“: Das Fett der Gefühle

Darren Aronofskys Film „Der Wal“ hat mit Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ herzlich wenig gemeinsam – obwohl er ständig darauf verweist.

Von William Collins Donahue

Herzversagen habe ich am eigenen Leib erlebt, und deshalb habe ich körperlich mitgelitten, wann immer Charlie (Brendan Fraser) sich schmerzverzerrt an die Brust griff. Wie er in seinem schweißverschmierten T-Shirt und mit all seinem unglaublichen Gewicht so dasaß und nach Luft schnappte, das hat mir selbst den Atem geraubt. Gefühlsmäßig war ich also schon viel früher dabei, als Regisseur Darren Aronofsky sich das wohl dachte, und sicher auch anders.

Im Grunde genommen schauen wir Charlie beim Sterben zu. Seine gute Freundin und zeitweilige Pflegerin Liz (Hong Chau), die sich als Schwester seines Exfreunds herausstellt, liefert gleich zu Beginn des Films die Diagnose. Immer wieder hören wir, dass sie Krankenschwester ist, und deshalb glauben wir ihr. Wenn er nicht ins Krankenhaus geht, ist er erledigt. Und er geht nicht. Man kann ihm die Zeit, die ihm bleibt, nur noch leichter machen.

Die Bühne ist also bereitet für Sinnsuche und Selbstfindung. Der beste Weckruf ist der Tod, wie Samuel Johnson sagte (so ungefähr jedenfalls). Wir verfolgen die nächsten Tage, erwarten das Unausweichliche und freuen uns auf Einsichten und allerlei Erbauliches.

„The Whale“ überlässt nichts dem Zufall und kaum etwas der Fantasie. Wir sollen hier einen Konflikt zwischen (fundamentalistischer) Religion und den Launen der Liebe sehen. Für die Liebe steht Charlies Beziehung zu Alan, die (vor der Filmhandlung) durch dessen Selbstmord tragisch endete und damit Charlies Esszwang auslöste, seine Verfettung, die nun ebenfalls tödlich enden wird. Kurzum: Er macht sich zum Wal.

Auftritt Thomas, der als Missionar der New-Life-Kirche von Tür zu Tür geht. Er sieht gut aus, ist gut angezogen, ein bisschen wie ein Mormone, und drückt gerade dann den Klingelknopf, als Charlie seinen ersten Herzinfarkt hat. (Spoiler Alert: Es kommen noch mehr!) Zufällig steht die Tür auf, und zufällig hat Charlie das Einzige in der Hand, was ihn irgendwie beruhigt: einen Aufsatz über Hermann Melvilles „Moby Dick“, den der gute Thomas ihm auch gleich vorliest. Und schwupps wird Charlie durch die Zauberkraft eines literarischen Klassikers geheilt, und auch wir fühlen uns ein bisschen besser.

Zauber eines Aufsatzes

Damit wir nicht vergessen, wie viel Bedeutsamkeit dieser Aufsatz ausstrahlt, wird er immer wieder vorgelesen – und irgendwann erfahren wir, dass er von Charlies Tochter Ellie stammt, die ihr Vater vor seinem Tod noch einmal sehen will. Nur so (Schnulzmusik!) kann er sich sicher sein, dass er „wenigstens eine Sache im Leben richtig gemacht hat“.

Ellie sträubt sich aber. Sie ärgert sich, dass ihr Vater wegging, als sie acht war, und aus Wut will sie anscheinend absichtlich durchs Abi fallen. Nur wenn sie sich in einem bestimmten Fach noch verbessert, hat sie eine Chance. (Warum ein einziges Fach sie retten kann, wenn sie überall so schlecht ist, erfahren wir nicht. Halten wir durch solche spießigen Fragen doch die Handlung nicht auf!) Und weil der Vater zufällig an der Uni Schreibkurse gibt und sie zufällig ein paar schlechte Aufsätze bei sich hat, könnte das doch tatsächlich funktionieren.

Die Handlung springt munter hin und her: Fängt Ellie was mit Thomas an? Es funkt, aber nicht lange. Werden sich Charlie und Mary, die Frau, die er für Alan sitzen ließ, noch aussöhnen? Die Möglichkeit wird angedeutet und dann nie wieder aufgenommen. Und Liz, die Krankenschwester? Wie ihr Bruder Alan hat sie unter ihrem streng fundamentalistischen Vater gelitten, dem Führer der New-Life-Kirche. Spannend eigentlich, aber die verlockende Aussicht auf eine Verständigung zwischen Vater Charlie und Tochter Ellie verdrängt das Thema gleich wieder.

Melville mit Wikipedia

Leider beruht die gesamte Geschichte auf der absurden Vorstellung, dass Ellie in der Mittelstufe „Moby Dick“ gelesen hat. Dabei wird der Text selbst in anglistischen Uniseminaren heute kaum noch behandelt. Ellie stellt sich eher als Wikipedia-Nutzerin vor, die von ihrer Mutter für grundböse gehalten wird, aber wir sollen wohl annehmen, dass hinter der mürrischen Fassade noch eine andere Ellie steckt.

Nehmen wir spaßeshalber an, dass sie das eigenartige Buch von 1851 tatsächlich gelesen hat, das D.H. Lawrence zu Recht für einen der sperrigsten Romane überhaupt hielt, der dabei so lang ist, dass die Erstausgabe in drei Bänden erschien. Was könnte die 13-jährige Ellie in Melvilles Meisterwerk gefunden und dann in ihren Aufsatz geschrieben haben?

Sie berichtet, dass der Autor (sie meint den Erzähler, Ishmael) im selben Bett wie Queequeg schläft und beide am nächsten Morgen zusammen in die Kirche gehen. Eine Anspielung auf Homosexualität und religiöse Intoleranz? Ein verkappter Hinweis, dass Gegensätze friedlich nebeneinander existieren können? Aber hallo!

Leidenschaft über Vernunft

Dann zeigt sie gleichermaßen Verständnis für den Wal und den von der Jagd besessenen Walfänger Ahab. Beide seien schließlich Opfer (wie das bei Hollywood-Versöhnungen immer so ist): Beim Walfänger habe die Leidenschaft die Vernunft besiegt. Kommt uns das bekannt vor? Womöglich eine Anspielung auf Charlie, der vor lauter Liebe zu seiner Tochter die vernünftigen Vorschläge von Liz ablehnt? Na klar!

Brendan Fraser als Charlie in einer Szene des Films „The Whale“
Brendan Fraser als Charlie in einer Szene des Films „The Whale“

© dpa/-

Worauf der Hollywoodfilm größten Wert legt, ist Ellies neunmalkluge Analyse von Melvilles zahlreichen Abschweifungen. Warum geht es so oft nicht um die spannende Jagd, sondern über so was Langweiliges wie die Geschichte und die Techniken des Walfangs an der amerikanischen Ostküste? Die Pennälerin hat eine der größten literaturwissenschaftlichen Streitfragen im Handumdrehen beantwortet: Der Autor wusste, dass wir uns abschotten müssen, wenn das Leid uns zu überwältigen droht.

„Seine“ (sie meint Ahabs) Geschichte körperlicher Verletzungen und irrationaler Reaktionen wäre ohne jede Ablenkung unerträglich. Große Kunst verschafft uns manchmal eine Verschnaufpause, nicht nur ein Hin- sondern auch mal ein Wegschauen. Kunst als Beruhigungsmittel? (Ellie hat nicht nur Melville, sondern wohl auch Nietzsche gelesen) ... Ha, Moment! Doch nicht etwa auch bei einem Herzinfarkt? Doch, Volltreffer!

Fehlverhalten des Vaters

Was für ein schlaues Kind. Die kann doch nicht böse sein. Wenn Charlie der Wal ist, könnten wir mit Ellies Unterstützung erkennen, dass auch ein bisschen Ahab in ihm steckt, oder? Und dann Mitleid für beide empfinden? Er hat schließlich den Wal erst „erschaffen“. In seiner Version der Geschichte bestraft er sich so für sein Fehlverhalten als Vater, Liebhaber, Ehemann, Freund, das er sich inzwischen eingesteht.

Trotzdem schwingt er sich allerdings irgendwie zum Rächer einer Welt auf, deren religiöse Engstirnigkeit Alan in den Selbstmord trieb und seine große Liebe einst als Krankheit abstempelte. Mit ihrem Schulaufsatz spricht Ellie dieser Ahab-Wal-Kombifigur, also Charlie, den Segen, bevor sein Schicksal überhaupt so richtig klar ist.

Nur: Diese Mischung kruder Anspielungen ist hinlänglich bekannt. Es ist unwahrscheinlich, dass Ellie in der achten Klasse „Moby Dick“ las, aber den Film interessiert das nicht, und auch nicht, ob überhaupt jemand das Buch gelesen hat, und eigentlich auch nicht, ob es das Buch als eigenständiges Kunstwerk gibt. Was wir hier vor uns haben, nennt Moritz Baßler „Midcult“. Ein klassischer Fall von Schlaumeierei, bei dem ein simpler Plot mit „bedeutsamen“ Anspielungen auf die Hochkultur ausgestopft wird, die eigentlich völlig überflüssig sind. Wir sollen uns klug vorkommen, ohne uns anstrengen zu müssen.

Stimme der Vernunft

Denn alle Anliegen des Films sind entweder von Anfang an klar oder laufen auf ein kommerzialisiertes Wohlfühlende hinaus. Dass homosexuelle Liebe etwas Gutes ist, steht nie infrage. Und wir wissen, dass Charlie an seinen Schwächen nicht selbst schuld ist: Liz, die Stimme der Vernunft, sagt ihm von Anfang an, dass er sich nicht dauernd entschuldigen soll. In einer besonders unterhaltsamen Szene droht sie ihm, ihn mit einem Küchenmesser zu erstechen, wenn er sich weiterhin für alles die Schuld gibt. Soll sie doch, sagt er. Seine Organe seien von so viel Fett umgeben, da komme sie nicht weit.

Auch mit der Religion macht der Film es sich leicht: Intoleranz wird zwar angeprangert, aber nicht etwa als Bestandteil, sondern als unwesentliche Begleiterscheinung von Religion. Ellie sorgt auf digitalem Wege dafür, dass Thomas vergeben wird. Er söhnt sich mit seiner Familie aus und bekommt Alans Bibel. Charlie tut es leid, dass er versucht hat, Alan von Gott abzubringen (aber eigentlich tut es ihm nicht leid), und wir dürfen vermuten, dass er mit der Frömmelei ein Problem hat, aber nicht mit dem Guten an der Religion.

Ellie und Liz sind Atheistinnen, aber vielleicht auch einfach nur wütend, und das ist weiß Gott o.k. Jedenfalls verstehen sie Thomas’ missionarischen Eifer bald und versuchen, jede auf ihre Weise, ihm zu helfen. Und selbst Thomas ist zwar religiös, steckt aber noch in der Selbstfindung. Und Alans Bibel bringt ihn vielleicht noch auf den rechten Weg.

Tiefpunkt des Seichten

Die Seichtigkeit des Films erreicht einen neuen Tiefpunkt, wenn wir Charlie beim Unterrichten sehen dürfen. Die ganze Wärme und den Optimismus, den er Ellie angedeihen lässt, setzt er auch hier ein, aber auch der beste Wille versetzt keine Berge. Am wichtigsten beim Schreiben – und in jeder Kunst? – sei die Ehrlichkeit, sagt er. (Dass ein solcher Film sich zu so einer Aussage versteigt, ist gefährlich, denn ein Zuschauer könnte sie ernst nehmen.)

Mit unendlicher Geduld und Güte überarbeitet Charlie die Struktur und den Stil studentischer Aufsätze, regt immer wieder Verbesserungen an. Aber am Ende macht er’s kurz: „Scheiß auf die Sekundärliteratur.“ Einmal sollen die Studierenden jetzt komplett ehrlich sein, mehr verlange er nicht. Manche machen mit, und in der nächsten Onlinesitzung liest Charlie stolz und mit Tränen in den Augen einige schriftliche Ausführungen vor. Toll sei das doch: „Mein Leben wird wahrscheinlich nicht so spannend, wie ich mir das gewünscht hätte.“ „Meine Eltern wollen, dass ich Radiologe werde, aber ich weiß noch nicht mal, was das ist.“

Dann schau’s halt nach, will man da rufen. Ist doch nicht schwer. Charlie reagiert herziger: Wie Ellies Melville-Aufsatz sei das alles ganz wunderbar. Die Latte liegt niedrig. Man kennt das von anderen Filmen: Alles, was ich je wissen musste, hab ich im Kindergarten gelernt. So ist das hier auch, nur bekommen wir diesen Sinnspruch leider zwei Stunden lang vorgekaut.

Ende eines Dozentenlebens

Charlie macht sich übrigens schließlich auch selbst ehrlich. Der Schlussakt seines Dozentenlebens ist, dass er die Kamera anmacht, seinen ganzen Körperumfang ins Bild setzt und sich selbst und seinen Seminarteilnehmenden so nichts erspart. Dann beendet er das Meeting, zerstört den Computer und macht sich auf, zu sterben. Ist das die ultimative Moralkeule? Der Protagonist rechtfertigt den Film, indem er innerhalb des Films das tut, was der Film selbst von Anfang an macht – Charlies Körper in Gänze zu zeigen.

So kann man es sehen. Aber hier geschieht noch etwas anderes. Von den ersten abgedunkelten Szenen an setzt „The Whale“ die cineastische Urkonstellation ins Werk. Der Schreiblehrer mit der sanften Stimme redet der Lerngruppe gut zu, und wir sehen aufmerksame Studierende auf einem Bildschirm, die sich mit ihrem Dozenten austauschen wollen. Die sehen aber nur ein schwarzes Kästchen und das Wort „Dozent“.

Uns geht es anders. Wir sind die privilegierten Voyeure, die in die Black Box schauen dürfen, wie in einer Peepshow. Wir sind schon längst in dem Film, den die anderen (noch) nicht sehen, und werden Zeuge intimster Momente, zum Beispiel wenn Charlie zu schwulen Pornos masturbiert.

Zurück zu den Anfängen

Wie der Filmwissenschaftler Anton Kaes feststellt, wurden frühe Filme oft mit unerlaubten Vergnügungen in Verbindung gebracht. Kino war fürs Volk. Filme wurden oft in Hinterzimmern und rauchigen Kneipen gezeigt. Deshalb dauerte es so lange, bis sich das bürgerliche Publikum und schließlich auch die Wissenschaft dafür interessierten. Aronofsky führt uns zu diesen „schmierigen“ Anfängen des Kinos zurück, und zwar auf durchaus bemerkenswerte Weise.

In jener vorletzten Szene sehen wir, wie die Studierenden auf Charlies große Enthüllung reagieren, und wir sehen dabei gleichsam in den Spiegel. Die Gesichter zeigen viel: Überraschung, Verwirrung, Sorge, Zweifel und auch Ekel. Bereits zuvor, in einer weniger überzeugenden Szene, hatte Charlie versucht, Thomas das Geständnis zu entlocken, dass er sich vor ihm ekelt. Nun geht das besser, denn Charlie muss gar nicht viel tun, um die ganze Bandbreite von Gefühlen auszulösen.

Im Gegenteil: Er bleibt, gerade hier, ein guter Lehrer. Denn gerade in dieser Rolle der „Respektsperson“, in der seine Studierenden ihn ein Semester lang schätzen gelernt haben, fasziniert und verstört und verschreckt er sein Gegenüber. Die Szene dauert nur ein paar Sekunden, aber sie regt zum Nachdenken an: Lässt sich die Situation umdrehen? Mit Charlie können wir uns vielleicht nur schwer identifizieren, aber doch sicher mit den Studierenden.

Ein Eimer Brathähnchen

Aber auch hier muss sich Widerspruch regen: Charlie sagt, er habe seine Fettleibigkeit selbst zu verantworten. Das ist zu einfach, denn wenn wir alles auf eine Entscheidung und eine einzige Ursache zurückführen, werden wir die Komplexität von Essstörungen nicht verstehen. Und die Szenen, in denen er einen Eimer Brathähnchen oder ein Frikadellensandwich verschlingt, sind eben einfach ein Fressporno.

Ich glaube der Figur Charlie nicht, dass sie anspruchsvolle Schreibkurse geben oder Romane interpretieren kann. Endlose Anspielungen auf „Moby Dick“ sollen zeigen, dass es o.k. ist, wenn wir uns von Schmerz und Leid ablenken. Das kann aufgehen, auch hier, als ästhetische Strategie. Aber genau diese ganzen Ablenkungen sind voller Klischees, sie machen Fettleibigkeit zur moralischen Frage und bieten allzu schablonenhafte Erklärungen für die Selbstverletzung – gar für den Suizid – an. Damit banalisieren sie ihre eigene, bodenlose Unsicherheit.

Der Film scheitert nicht daran, dass Brendan Fraser sich Fettpolster angezogen hat. Und er macht sich auch nicht über Adipositas lustig. Es geht mir auch nicht darum, „große Literatur“ gegen Hollywood in Schutz zu nehmen und Melville vor den Massen zu retten. Aber ich will feststellen: Melville wird missbraucht, wo der Film einen Schrecken zu entschärfen versucht, bevor er ihn überhaupt so richtig ausgelöst hat. Und machen wir uns nichts vor: „Der Wal“ ist und bleibt eine altbackene Schulhofhänselei, und keine noch so gehobene literarische Anspielung kann das übertünchen.

Mir gehen die Bilder eines schmerzverzerrten Charlie auch weiterhin nach. Ich werde nicht vergessen, wie er mit aller Kraft aufzustehen versucht. Dem Film gelingt es fast unwillkürlich, uns wie der weiße Wal in die tiefste Tiefe eines dionysischen Leidens hinabzuziehen, in dem sich Angst, Scham und Verwirrung dauerhaft vermischen. Die apollinische Oberfläche, die uns hier tragen soll, bricht ein. Sie schützt uns nicht vor den verdrängten Bildern von Ahabs Leid, vor den Darstellungen von Verstümmelung und todbringender Behinderung. In dieser Hinsicht jedenfalls sind sich Film und Buch am Ende doch ähnlich.

Aus dem Amerikanischen von Christophe Fricker und dem Autor

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false