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Talent zum "cant": Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher.

© DPA/DPAWEB

Egon Friedell über die Briten: Meister der ehrlichen Verlogenheit

Die Gabe, sich selbst hereinzulegen: Wie der Kulturhistoriker Egon Friedell im „cant“ den Charakter der britischen Seele erkannte.

In seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ von 1927 verwendet Egon Friedell in seinen Abschnitten über das elisabethanische England das eigentümliche Wort „cant“. Nein, er hatte sich nicht im Vokal geirrt, sondern bezeichnet damit eine Charaktereigenschaft, die er mit dem Aufstieg Englands zur Weltmacht in Verbindung bringt. Der „cant“ bei Elisabeth I., schreibt er, sei „bereits zur vollendeten Meisterschaft entwickelt, jene Eigenschaft, für die keine andere Sprache ein bezeichnendes Wort hat, weil kein anderes Volk etwas besitzt, das ihr entspricht. Was ist ,cant‘? Es ist nicht ,Verlogenheit‘, ist nicht ,Heuchelei‘ oder dergleichen, sondern etwas viel Komplizierteres.“

Für Friedell ist es das Talent, „alles für gut und wahr zu halten, was einem jeweils praktische Vorteile bringt. Wenn dem Engländer etwas unangenehm ist, so beschließt er (in seinem Unterbewusstsein natürlich), es zur Sünde oder Unwahrheit zu erklären. Er hat also die merkwürdige Fähigkeit, nicht etwa bloß gegen andere, sondern auch gegen sich selbst perfide zu sein, und er bestätigt diese Fähigkeit mit dem besten Gewissen, was ganz natürlich ist, denn er handelt in der Ausübung eines Instinkts. ,Cant‘ ist etwas, das man ,ehrliche Verlogenheit‘ nennen könnte oder ,die Gabe, sich selbst hereinzulegen‘.“

Anwälte, Priester und Politiker mit "cant"

Es liegt nahe, den Begriff auf das lateinische „cantare“ zurückzuführen. Dem großen Etymologen Walter William Skeat zufolge bezeichnet er nämlich einen ans Winseln grenzenden, klagenden Sington. „Cant“ entstammt dem Milieu der Bettler und Kleingangster, dient der Gewinnerzeugung durch List und eignet sich zum Übers-Ohr-hauen. In jedem Fall ist „cant“ mit einem Mangel an Ernsthaftigkeit verbunden.

Englands Vorzeigedichter Percy Bysshe Shelley und Lord Byron gründeten ihre Freundschaft auf die Verachtung von „cant“ und erweiterten die Gruppe derer, denen dieses Talent zugeschrieben wurde, um den Stand der Anwälte und Priester, also um die Stützen der Gesellschaft. Fehlen nur die Politiker. Bei diesem Gedanken zwängt sich das Bild Margaret Thatchers durch die Erinnerungslücken, von der scheinheiligen Manier, in der sie, makellos coiffiert, ihre Lippen mit der Zunge befeuchtet, um belehrende Botschaften salbungsvoll an Mann und Frau zu bringen.

Friedell gebraucht in seinem Text das Wort „perfide“, ohne sich auf die Bezeichnung „Perfides Albion“ herabzulassen. Er war zu klug, um sich dieses wilhelminischen Klischees zu bedienen, das vor allem ab 1933 wieder Konjunktur hatte. Albion, so sagen die Enzyklopädien, ist möglicherweise keltischen Ursprungs, wobei sie auch den Römern nachsagen, es erfunden zu haben, als deren Truppen bei der Eroberung der Insel die weißen Klippen der englischen Südküste passierten. „La perfide Albion“ ist indes die Kreation des Marquis de Ximenez von 1793, der so die oft als hinterhältig bezeichnete Außenpolitik Englands charakterisierte, die sich über Jahrhunderte hinweg mehrmals rechtswidriger Methoden bedient haben soll, um Frankreich zu besiegen.

Nicht typisch Englisch, sondern menschlich

Auch in den letzten Jahren war öfter die Rede vom „perfiden Albion“, im Zusammenhang mit Diskussionen um nationale Zugehörigkeiten, um die Europäische Union als Ersatz für einen unzeitgemäßen Nationalismus, der besonders in Deutschland zu gedeihen schien und vor allem gegen England gerichtet war.

Friedells Anamnese der englischen Seele kommt gerade recht, weil „cant“ das Wort „Albion“ vom Hautgout des Perfiden befreit. Unweigerlich nämlich muss der Leser zu dem Schluss kommen, dass „cant“ nichts typisch Englisches ist, sondern ein menschlich-allzumenschliches Verhaltensmuster treffend analysiert.

Nehmen wir an, die Engländer machten gegenwärtig nichts anderes, als anderen wendig vorauszugehen. In jedem Fall präsentieren sie der Weltöffentlichkeit gerade das Bild eines hochlebendigen Parlaments, für dessen Mitglieder es unmöglich ist, aneinander vorbeizuschauen oder nicht zu erscheinen. Eines Parlaments, in dem es sogar gestattet ist, sich mit einer „Mischung aus ungezügeltem Urmenschentum und modernem Engländertum“ (Friedell) wie Renaissancemenschen aufzuführen.

Suche nach dem „Licht auf der anderen Seite“

Shakespeare war ein elisabethanischer Mensch, wie auch der Philosoph, Wissenschaftler, Advokat und Politiker Francis Bacon. In ihm sah Friedell jenen Typus konzipiert, der sich erst später ausprägen sollte, nicht nur von eingeschworenen Anglophilen hingebungsvoll imitiert wird und dessen Begabungen „cant“ um Lichtjahre übertreffen: „der kühle, wohl informierte, weitblickende Engländer mit seinem leidenschaftlichen Positivismus, seinem praktischen Genie, seiner gesunden Mischung aus Konsequenz und Anpassungsfähigkeit, seinem welterobernden Tatsachensinn; Gentleman, Gelehrter und Weltreisender in einer Person, in der einen Hand den Kompass, in der anderen die ‚Times‘.“

Egon Friedells Kulturgeschichte, deren Untertitel „Die Krisis der europäischen Seele“ lautet, umfasst die Zeit vom 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Um dem Chaos zu entgehen, heißt es gegen Ende der Schrift, müsse man sich in Zukunft auf die Suche nach dem „Licht auf der anderen Seite“ begeben. Zweifelsohne hätte Friedell diese Suche glänzend beschrieben, wäre er nicht 1938 auf der Flucht vor den Nazis in den Tod gesprungen.

Rita Pokorny

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