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Virtuosin der kleinen Form. Ilma Rakusa.

© Giogrio von Arb

„Mein Alphabet“ von Ilma Rakusa: Ein Geruch nach Tang und Immergrün

Anrufung und Aufschrei: Kleist-Preisträgerin Ilma Rakusa verdichtet die entscheidenden Momente ihres Lebens zu einem literarischen ABC.

Lässt sich mithilfe eines Begriffs-ABCs ein Jahrzehnt erschließen, etwa zwischen A wie Anti-Atom und W wie Wende?

Wenn solch ein Unternehmen schon gewagt erscheint, wie viel mehr Gewalt tut man einem individuellen an, wenn man es zwischen A und Z knechtet, wie es die 1946 in der Slowakei geborene, in Triest und der Schweiz aufgewachsene und in Zürich lebende Kleist-Preisträgerin Ilma Rakusa unternimmt.

„Mein Alphabet“ nennt sie ihre Bestandsaufnahme, und ihre Lieblingszahl neun hat sich sogar aufs Cover geschlichen. Die Rezensentin hat sich dieser lebensprallen Bestandsaufnahme von O wie Oh! her genähert, einem zwischen kindlichem Staunen und abgeklärtem Bedauern aufgespannten Ausruf, das sich wie selbstverständlich überall einmischt, denn „Krankheiten und Todesfälle häufen sich“.

Ihr Lieblingswort, gesteht Rakusa, umfasse „Atemholen und Anpreisung zugleich“. Vielleicht ist dies auch eine Art Gebrauchsanweisung, um dieses immerhin 300 Seiten starke Alphabet zu durchforsten, tänzelnd und springend, nicht der Reihe nach.

Also lohnt es sich, erst einmal der anfänglichen Angst auszuweichen (vor dem Alter, den Dingen, die wir verloren haben und, ja, auch der Einsamkeit, die, wenn gut gelitten, Kreativität freisetzt, manchmal aber auch nur Trauer).

Pflöcke in Erinnerungslandschaften

Die Freunde werden weniger, sie werden verabschiedet auf dem Friedhof, mal in einem eigenen Kapitel wie Ungarns großer Erzähler Péter Esterházy, mal nebenbei wie die 2013 in Lubljana verstorbene Lyrikerin Maruša Krese, eine Lyrikerin wie Rakusa und mutige Gegnerin des Balkankriegs.

Rakusa lässt sich auf die Kinder-Couch begleiten, auf der alles angefangen hat, zurück zum Mädchen in Triest. „Mein Triest hatte die Farben des Meers, roch nach Tang und Immergrün, klang slowenisch, italienisch und ungarisch“, erinnert sie sich und ergänzt, worüber sie in ihrem wunderbaren Erinnerungsbuch „Mehr Meer“ schon einmal Auskunft gegeben hat.

Mit Farben wie Blau, Braun, Rot oder Schwarz treibt sie Pflöcke in die Erinnerungslandschaften, oft lyrisch flankiert. Man erfährt von einer Autorin, die im Bett Geborgenheit findet, morgens Joghurt isst und Kartoffeln „Krümpli“ nennt, die kennt man im Süden der Republik als Krummbirnen.

Viel Alltägliches ist dabei, auch Banales, und dass sie uns wissen lässt, dass ihr Sohn als Zwölfjähriger in der provenzalischen Hütte schon Stendhal gelesen hat, na ja, da spricht sich wohl die stolze Mutter aus.

[Ilma Rakusa: Mein Alphabet. Literaturverlag Droschl, Graz 2019. 305 Seiten, 23 €.]

Doch was als Potpourri zunächst beliebig scheint, ist ziemlich streng komponiert. Nicht nur verschränkt sich in loser Knüpftechnik unmerklich ein Begriff mit dem anderen, assoziativ und oft über viele Seiten hinweg. Die in Form fiktiver Interviews angebotene Selbstbefragung erschließt mehr als nur einen biografischen Raum.

Unter Stichworten wie Interpunktion, Kritik, Märchen, Poetik oder Schreiben (Scribo, ergo sum) entwirft diese ungemein belesene Schriftstellerin und Übersetzerin ihr poetologisches Programm, das an ihre literarischen Gewährsleute erinnert und sie selbst als Virtuosin der kleinen Form ausweist.

Das Zufällige im Leben

„Das Schreiben kann Selbstgespräch und Protokoll, Anrufung, aber auch Aufschrei sein“, heißt es an einer Stelle, wichtig bei all dem sei die „Konstruktion als Gerüst“, um das „Zufällige, Aleatorische des Schreibens“ zu bändigen.

Das Zufällige im Leben ist bekanntlich beheimatet in der Herkunft und in der Liebe („Love after Love“ hieß einmal einer ihrer Gedichtbände) und auch in der körperlichen Verfassung, worüber man unter Migräne erfährt.

Viel ist von Rakusas Begeisterung für Japan die Rede und von ihren kulturellen Besessenheiten: „Mein Kompass zeigt nach Osten.“

Eine Reise, die sich im Kopf abspielt

Lexikalisch konsequent verfolgt sie ihr Alphabet dann aber doch nicht. Sonst dürfte sie, hinter Zypresse und Zwetajewa, unter Z wie Zaun nicht enden mit den Holzzäunen ihrer Kindheit, den ausschließenden Metallzäunen an den Wohlstandsgrenzen und den virtuellen, die den Blick in die Vergangenheit lenken.

Zwischen alten Fotos sitzend, will sie den Dingen zurufen: „Offenbart euch, lasst mich nicht außen vor.“ Über sich selbst offenbart Ilma Rakusa in diesem Buch ungewöhnlich viel, nimmt einen mit auf weite, geografisch nachvollziehbare Reisen, die sich vor allem aber im Kopf abspielen.

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