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Richter und Denker. Marcel Reich-Ranicki bei der Eröffnung einer Ausstellung zu seinem 90. Geburtstag im Frankfurter Museum Judengasse.

© dpa

90. Geburtstag: Marcel Reich-Ranicki: Der Mann aus Büchern

Außenseiter, Provokateur, Superstar: Marcel Reich-Ranicki zum 90. Geburtstag. An seiner Urteilskraft könnten sich andere ein Beispiel nehmen.

Als Marcel Reich-Ranicki vor fast zehn Jahren in einer Radiosendung über das Alterswerk von Künstlern diskutierte, wehrte er sich entschieden gegen jede Verklärung des Alters. „Alles ist im Alter schlechter. Die Energie, das Gedächtnis, alles lässt im Alter nach“, sagte er und empfahl gerade den Autoren unter den Zuhörern: „Lasst euch nicht einreden, die wunderbare Zeit der Produktivität beginnt mit 60 oder 70, das stimmt nicht. Ihr werdet euer Werk nicht übertrumpfen mit einem Spätwerk.“ Machte Reich-Ranicki zumindest für einen seiner Lieblingsautoren eine Ausnahme, Theodor Fontane, bestand er derart auf seinem Verdikt über das Nachlassen der kreativen Kraft im Alter, dass er selbst über sein Erinnerungsbuch „Mein Leben“ spekulierte, ob es nicht besser geworden wäre, hätte er zehn Jahre zuvor mit dem Schreiben begonnen.

Schaut man sich an, wie produktiv Marcel Reich-Ranicki in seinem neunten Lebensjahrzehnt gewesen ist, bis zum heutigen Tag, da er seinen 90. Geburtstag feiert, scheint er sich tagtäglich eines Besseren belehrt zu haben. Von nachlassender Energie kann keine Rede sein. Reich-Ranicki produzierte Bücher am Fließband, Sammlungen mit Aufsätzen, Essays und Rezensionen. Vor allem arbeitete er an seinem fünfzigbändigen Kanon der deutschen Literatur – und beklagte sich 2006 nach Erscheinen des letzten Teils wie ein beleidigter Schriftsteller über die mangelnde Resonanz darauf: „Man glaubt, etwas Tolles getan zu haben, und dann erscheint das Werk, und die Kritik schweigt. Dann sagt sie zwar was, am Ende aber nicht viel, und man ist enttäuscht.“ Und bis heute betreut er die „Frankfurter Anthologie“, die größte Gedichtsammlung mit Gedichtinterpretationen, die es je in deutscher Sprache gegeben hat, und schreibt eine Kolumne für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“.

Auch sonst wurde es in dem letzten Jahrzehnt nie still um Reich-Ranicki. Sei es, dass ihm die FU in Berlin und – noch wichtiger – die Berliner Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürden verliehen; an der HU durfte er 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft nicht studieren. Sei es, dass Horst Köhler ihn als Verkörperung gleich der ganzen Kulturnation bezeichnete; oder sei es, dass er Fernsehdeutschland in Aufruhr brachte und zu einer selbstkritischen Nabelschau veranlasste, weil er sich weigerte, einen Fernsehpreis anzunehmen, und die miese Qualität des Mediums anprangerte.

Die Reich-Ranicki-Geburtstagsfestspiele, die seit zwei Wochen auf allen Kanälen laufen, sind also nicht verwunderlich, auch nicht, dass ihre Intensität und Größe vielleicht sogar die Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag von Richard von Weizsäcker übertreffen. Es ist eine Mischung aus Respekt vor dieser Lebensleistung, aus Bewunderung, auch Zuneigung und nicht zuletzt Dankbarkeit, die sich in diesen Festspielen äußert. Und wiewohl die aktuellen Interviews mit dem Jubilar nicht sehr ergiebig waren, sie mitunter (unfreiwillig?) Vorführungscharakter hatten, gerade im Hinblick auf Erinnerungslücken und das Unglück des Alters überhaupt, so spürte man doch das Bemühen, das Phänomen Reich-Ranicki noch einmal vis-à-vis zu ergründen. Und zu verstehen, wie es für den 1920 im polnischen Wloclawek als Sohn eines polnischen Juden und einer deutschen Jüdin geborenen Marcel Reich-Ranicki möglich war, sich sein Leben lang mit der deutschen Literatur zu beschäftigen, nach allem, was ihm und seinen Angehörigen im Deutschland der Nazizeit widerfahren war; und dann in diesem Land auch zu leben und zum größten, mächtigsten Literaturkritiker zu werden, nachdem er 1958 vor den polnischen Kommunisten nach Frankfurt am Main geflohen war und „wieder einmal nichts, gar nichts“ hatte, wie er in „Mein Leben“ schreibt, „– nur dieses unsichtbare Gepäck, die Literatur, die deutsche zumal“.

Dass ihn die Literatur gerettet hätte, hat er jetzt in der „Zeit“ zwar verneint: „Es war überhaupt nicht klar, was ich machen sollte. In Warschau war ich ein vollkommener Außenseiter.“ Doch sicher war, dass er es nach seiner Tätigkeit als Kritiker von deutschsprachiger Literatur in Polen auch in Deutschland als Kritiker versuchen wollte. Und dabei „auf keinen Fall als Verfolgter oder als hilfsbedürftiger Emigrant aufzutreten, als Bittsteller“. Die unbedingte Liebe zur Literatur half ihm bei dieser Form von Selbstbehauptung, die Literatur, die er auch als sein „Lebensgefühl“ bezeichnete, oder mit Heine als „portatives Vaterland“. Diese Liebe schien ihm im Folgenden geradezu aus allen Poren zu kommen, glaubt man dem Gruppe-47-Oberhaupt Hans Werner Richter, der sich erinnerte, dass Reich-Ranicki nur aus Büchern zu bestehen schien, „sein Nervensystem muss ein Buch sein, seine einzelnen Körperteile, sein Kopf natürlich – alles Bücher, nichts als Bücher“.

Diese Unbedingtheit, die auch durch das Gefühl befeuert wurde, ein Außenseiter und isoliert zu sein, teilte sich nicht nur den Kollegen mit, sondern auch dem Publikum; seine Einmaligkeit, dass er als Ausnahmeerscheinung gilt, ist zum großen Teil auf diese Unbedingtheit zurückzuführen. Und das Publikum, das hat er immer wieder betont, ist dann für ihn immer die letzte Instanz beim Kritikenschreiben gewesen, nicht die Schriftsteller und schon gar nicht die eigene Zunft.

Die Kritik hat der Kunst zu dienen; der Leser soll ein Resultat bekommen, ein nachvollziehbares, und der Kritiker muss sich entscheiden – das ist Reich-Ranickis literaturkritische Devise bis heute. Einerseits-andererseits- oder Ja-aber-Rezensionen sind ihm ein Gräuel. Das hat ihm viele Feinde eingebracht – und viel Ehre, gerade auch später als Vorturner des „Literarischen Quartetts“. So setzte er sich von den differenzierter vorgehenden Großkritikerkollegen wie etwa Reinhard Baumgart oder Joachim Kaiser ab; und so leistete er immer wieder der Einschätzung Vorschub, ihm sei nicht nur in der Literaturkritik an Eindeutigkeit gelegen, sondern in der Literatur selbst. Ein grobes Missverständnis – wiewohl ihm das realistisch Erzählte trotzdem näher ist als das Experimentelle, das Jonglieren mit der Sprache. „Wer schreibt, provoziert“, heißt eines seiner Bücher, zwei weitere sind „Die Ungeliebten. Sieben Emigranten“ und „Über Ruhestörer. Juden in der Literatur“. betitelt. Schon die Titel haben etwas Programmatisches, spiegelt sich doch darin seine ewige Außenseiterrolle: als verfolgter Jude, Emigrant, Kritiker. So spielt eins ins andere: die schweren Gefährdungen seiner Jugend und seine famose spätere Laufbahn.

Dass sein Leben für das 20. Jahrhundert genauso exemplarisch wie einzigartig-unwahrscheinlich ist, hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten, spätestens mit „Mein Leben“, zunehmend in den Vordergrund geschoben. Dass sein Leben und die späte Medienpräsenz seine literaturkritische Arbeit vielleicht einmal überstrahlen könnten, bewog ihn vor einigen Jahren nur zu einem Achselzucken: „Ja und? Was soll ich da tun? (...) Wenn ich zehn Minuten in einer Talkshow plaudere, reagieren darauf 27 deutsche Zeitungen. Wenn ich indes eine Studie über Musil publiziere, an der ich ein Jahr gearbeitet habe, muss ich mich damit abfinden, dass sich die knappe Resonanz auf zwei oder drei Zeitschriften beschränkt.“

Medienstar hin oder her: Wenn Marcel Reich-Ranicki dieser Tage so überbordernd gefeiert wird, dann auch, weil die Literatur sein Leben ist und war und kein Zweiter das so verkörpert hat wie er. Vielleicht zeigt sich in der Verehrung für ihn ein wenig auch die Sehnsucht, die Literatur möge zumindest ansatzweise wieder den Stellenwert bekommen, den sie in den literaturkritischen Hochzeiten Reich-Ranickis bis in die achtziger Jahre hatte: gesellschaftlich relevant, Diskurse anstoßend, jenseits des Literaturbetriebsgärtleins, und nicht nur Skandale um der Skandale willen auslösend. Und schließlich gibt es da noch die Sehnsucht, die Literaturkritik möge wieder weniger „lauwarm“ werden, wie ihr das selbst von den vor allem an Auflagen und Verkäufe denkenden Verlagen vorgeworfen wird; sie möge ihre „Beißhemmung“ aufgeben, wieder polemischer werden, wie es neulich auf einem Kritiker- und Schriftstellertreffen in Hamburg vielfach hieß.

Man könnte sich also ruhig öfter wieder an Reich-Ranicki ein Beispiel nehmen, an seiner Urteilskraft, an der so selten ein Zweifel nagte – wie die Urteile ausfallen, wie verschieden die Ansichten zur Literatur und die literarischen Präferenzen sind, steht auf einem anderen Blatt.

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