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Der Fall Fritzl: Werk des Grauens

Der Fall Fritzl: Ein Mann hält seine Tochter jahrelang im Keller gefangen und zeugt sieben Kinder mit ihr. Régis Jauffret hat ein Buch darüber geschrieben. Hier erzählt er, was er bei seinen Recherchen entdeckte.

Als ich im Radio hörte, dass ein Mann namens Josef Fritzl in Amstetten seine Tochter 24 Jahre im Keller gefangen gehalten und mit ihr sieben Kinder hatte, wusste ich sofort: Darüber werde ich einen Roman schreiben. Er heißt „Claustria“, zusammengesetzt aus „Austria“ und „Claustrum“, lateinisch für Verschluss. Es war elf Uhr morgens, ich kochte gerade in meiner Wohnung in Paris Kaffee, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen – hier erfüllt sich das Höhlengleichnis von Platon. In Platons Höhle sind die Menschen gefangen und sehen die Außenwelt nur als Schatten an den Wänden. Für die Eingeschlossenen von Amstetten kamen die Projektionen vom Fernsehen, der Fernseher war für sie die einzige Möglichkeit, Tage und Wochen zu strukturieren, den Lauf des Lebens draußen zu verfolgen. Nach mehr als zwei Jahrtausenden ist eine der berühmtesten Geschichten der Menschheit Wirklichkeit geworden.

Ich fuhr nach Österreich. Was ich dort recherchierte, habe ich zusammengefügt, die Leerstellen mit meiner Imagination gefüllt und zu einem Werk der Fiktion verdichtet. Ich bin wie ein Archäologe vorgegangen, der Spuren, Werkzeuge untersucht und daraus ein Gesamtbild des Alltags erstellt. Ein niederösterreichischer Landespolitiker zeigte mir etwa auf seinem Computer unbekannte Fotos aus dem Keller. Ich sah darauf Spielzeug und Dekoration, einen gewissen Komfort. Daraus schloss ich, dass es neben Leid und Gewalt jene Form familiären Zusammenlebens gegeben haben muss, die ich in meinem Roman aus der Sicht der Eingeschlossenen beschreibe. Im Keller wurde Weihnachten gefeiert, und an Ostern wurden Eier versteckt. Es gab einen Kanarienvogel da unten, im Winter brachte Fritzl den Kindern Schnee aus dem Garten mit.

Als Schriftsteller habe ich mit Kriminalfällen eigentlich nichts am Hut, ich habe auch nicht Jura studiert, sondern Philosophie. Der Prozess gegen Fritzl, den ich im Frühjahr 2009 in St. Pölten besuchte, hat mich vom Hocker gehauen. Allein die Menge an Journalisten. Aus China, Japan, von Al Jazeera und aus Amerika, es war, als ginge es um die Wahl von Obama. Die junge Richterin war überfordert, Fritzls Verteidiger zog eine seltsame Show ab. Einmal erwähnte er eine Mail an ihn, in der jemand drohte, Fritzl das Geschlecht abzuschneiden. Er verwendete dafür aber einen österreichischen Ausdruck, so etwas wie „Pipi“ oder „Zipfel“, das hat ihn sehr amüsiert, er brachte den ganzen Saal zum Lachen.

Auch der Angeklagte, der später zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wirkte gut gelaunt. Als die Richterin sagte, er könne in die Psychiatrie eingewiesen werden, strahlte er eine gewisse Zufriedenheit aus. Die englische und italienische Boulevardpresse hat Fritzl ja immer als Nazi-Monster dargestellt. Weil es in Österreich Nazis gab und Fritzl Österreicher war, er also ein Nazi sein musste, das war die seltsame Logik. Fritzl griff das auf und rechtfertigte seine Taten mit der Erziehung in der NS-Zeit. Doch das ist alles falsch. Eine Kindheitsfreundin von Fritzl sagte mir, dass er wie die anderen Kinder die ganze Zeit draußen herumtollte, Indianer spielte.

Das Gerichtsverfahren hat mich irritiert. Fritzls Ehefrau, wohl die wichtigste Zeugin, erschien nicht. Bei Fritzls Tochter, die ich in meinem Roman „Angelika“ nenne, war die ganze Zeit in der Schwebe, ob sie aussagt oder nicht. Im letzten Moment entschied sie sich zu kommen, was ein unglaubliches Durch- einander auslöste, wie man sie in den Saal bringt, ohne dass die Presse sie sieht. Später sagte man uns, sie habe im Gerichtssaal ihren Vater zur Rede gestellt. Was ist das für eine Art, einen Prozess zu führen? Gut, in Österreich waren alle voller Emotionen, sicher auch in Panik. Aber die Justiz selbst ist nüchtern, und es gibt gute Gründe, dass sie es ist.

Ich hatte den Eindruck, dass Österreich mit der Sache abschließen wollte. Mal abgesehen von dem Taxifahrer in Amstetten, der mir sagte: Das ist schlechte Werbung für unsere Stadt, aber immerhin Werbung. Vielleicht wird mir in Österreich deshalb so viel an den Kopf geworfen. In meiner Heimat Frankreich war „Claustria“ ein großer Erfolg, in Österreich wurde die deutsche Ausgabe, die soeben herauskam, als „Dreck“ bezeichnet, selbst in seriösen Medien. Man wirft mir vor, ein anti-österreichisches Pamphlet verfasst zu haben, am Leid der Opfer Geld zu verdienen.

Ich sehe darin einen Versuch, das Thema zu begraben. Man redet nicht darüber, und worüber man nicht redet, das existiert nicht. Aber wo kommen wir hin, wenn wir nicht über Gewalt, Tragödien, den Tod sprechen? Darf ich nicht über Waterloo schreiben, weil dort unzählige Menschen niedergemetzelt wurden? Es ist keine österreichische Geschichte, es ist eine Geschichte der Menschheit, vergleichbar mit Kaspar Hauser. Es werden sich noch viele Schriftsteller, Filmemacher, Künstler an diesem Stoff abarbeiten.

Ich hoffe, dass auch „Angelika“ eines Tages berichten wird. Angeblich hat man ihr eine Million Pfund für ihre Memoiren angeboten, und ich denke, es wird ihr nichts anderes übrig bleiben. Das Einzige, was sie je an finanzieller Unterstützung erhielt, war die Nachzahlung des Kindergelds. Allerdings könnte sie vieles nicht erzählen, weil man es schlicht nicht begreifen würde. Man kann vielleicht die Straflager in Sibirien verstehen. Aber 24 Jahre im Keller mit dem eigenen Vater, der gleichzeitig der Vater der Kinder ist, das ist zu weit weg von uns. Oder die Tatsache, dass die Kinder Fritzl und den Keller vermissen. Der Kleinste, der fünfjährige Junge, hat nach seiner Befreiung immer wieder nach Fritzl gefragt. Im Krankenhaus, wo Angelika und die Kinder untergebracht waren, musste man ihm eine Art Verschlag bauen, weil er es nicht gewohnt war, anders zu leben.

Ich habe viele kluge Leute getroffen in Österreich, Ermittler, Psychiater, Rechtsanwälte. Aber alle, die ich fragte, wie ein derartiges Verbrechen 24 Jahre lang unentdeckt bleiben konnte, antworteten ähnlich: „Es gibt in Österreich Regionen, da sind die Frauen sehr unterdrückt.“ Oder: „Es gibt in Österreich Regionen, da wäscht man sich nicht.“ Das sagte mir allen Ernstes ein Anwalt, als ich anmerkte, dass Fritzl jeden Tag mit frischen Hemden, die seine Frau gebügelt hatte, nach unten ging und mit Kellergeruch wieder kam. Es gab immer eine Erklärung für das Unerklärbare. Als gäbe es ein Österreich oben und ein Österreich unten, und in jedem gälten eigene Naturgesetze.

Fritzls Ehefrau ignorieren überhaupt alle. Sie ist die große Unbekannte, die angeblich nie etwas gehört oder gesehen hat. Den Mann, der jeden Tag aus dem Auto steigt, mit Windeln, mit Babynahrung – den hat sie nicht gesehen? Und was ist mit dem Müll? Es gab im Keller eine große Küche, mit Töpfen, Kräutern, allem. Sie musste ihren Mann nicht einmal ansprechen, es reichte, in den Müll zu gucken, in dem täglich winzige Windeln lagen. Wenn diese Frau in meinem Roman als Mitwisserin erscheint, dann hat das weniger mit Imagination als mit Logik zu tun.

Absurd ist auch die Sache mit der Akustik. Es hieß immer, der Keller sei schalldicht, aber es habe hineingeregnet. Also war er jetzt dicht oder hat es hineingeregnet? Ein entsprechendes Lärm-Gutachten wurde nie öffentlich gemacht. Tatsache ist, die Decke bestand aus Plastiklatten, weil Fritzl Angst vor Holz hatte, das man hätte als Waffe benützen können. Dazwischen drang durch Ritzen die Luft, sonst wären alle erstickt. Aber keiner will durch diese undichte Decke die Schmerzensschreie gehört haben, wenn Fritzl seine Tochter vergewaltigte? Keiner hörte, dass Angelika sechs Mal entband, einmal sogar Zwillinge, nur mit einer Flasche Alkohol, einer Schere und ein paar Taschentüchern? Keiner hat die Neugeborenen schreien hören? Die Waschmaschine, den Mixer, den Fernseher – all das hat keiner gehört?

Ich klage nicht an. Ich will erzählen. Vielleicht kann ich eine Erklärung liefern, die für jeden verständlich ist, weil ich wie jeder bin, unbefangen. Es war hart, mich diesem Verbrechen auszusetzen, zumal ich selbst zwei Kinder habe, 20 und 23 Jahre alt. Aber wer sich in die Kälte begibt, muss damit rechnen, dass ihm kalt wird. Wie Thomas Bernhard mal sagte: Wer schreibt, darf nicht feige sein, kein poule mouillé, wie es in der französischen Übersetzung heißt, kein nasses Hühnchen. Es war der fünfjährige Junge, der mich immer wieder angespornt hat, das jüngste von Angelikas Kindern. Der Kleine ist für mich das Licht in dieser Geschichte, derjenige, der da irgendwann herauskommen wird. Beim Verlassen des Kellers sah er die Polizeiautos. Die kannte er aus den Fernsehserien, die er am liebsten hatte. Er sagte zur Beamtin: Gut, dass ich rauskomme, jetzt kann ich in einem Polizeiauto fahren. So ist er in die Welt hinaufgestiegen, auf anrührende Art fallen Fiktion und Wirklichkeit hier wieder zusammen.

Aufgezeichnet von Verena Mayer

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