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Die erste Auflage von Hitlers Schrift trug 1925 das Motiv des „Drachens“.

© Unibibliothek Erlangen-Nürnberg

Vor einem Jahr erschien die kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“: Wenig gelesen, sträflich unterschätzt

Vor einem Jahr erschien die kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“. Othmar Plöckinger legt weitere Dokumente vor.

Ein Jahr ist es jetzt her, dass die wissenschaftliche Edition von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ erschien. Als das zweibändige Werk am 8. Januar des vergangenen Jahres in München vorgestellt wurde, war das Interesse der Öffentlichkeit enorm. Das herausgebende Institut für Zeitgeschichte (IfZ) sah sich einem Ansturm gegenüber, der sich nicht auf die Medien beschränkte, sondern interessierte Laien zu Käufern machte. Bis heute sind gut 85 000 Exemplare der fünf Kilo schweren Edition zum günstigen Preis von 59 Euro verkauft worden, weit über den Kreis von Fachkollegen hinaus, für die die Erstauflage von 4000 Stück als ausreichend kalkuliert worden war.

„Hinter der Furcht, dass ,Mein Kampf‘ zum Bestseller wird, steckt ein fehlendes Vertrauen in die Zivilgesellschaft Deutschlands“, urteilte der Hitler-Forscher Thomas Weber nach den ersten Monaten des Verkaufsbooms. Wohl wahr! Der jahrzehntelange Bann, den die Bayerische Landesregierung als von den Alliierten eingesetzte Rechte-Erbin über das Hitler-Werk verhängt hatte, war längst obsolet geworden. Bereits als Ende der 1960er Jahre die kritische Auseinandersetzung mit dem NS-Regime einsetzte, hätte eine annotierte Edition von „Mein Kampf“ der historischen Forschung gute Dienste getan. Noch 2015 beklagte Sven Felix Kellerhoff in seiner lesenswerten Studie „,Mein Kampf‘. Die Karriere eines deutschen Buches“, es gebe „bislang keine einzige kommentierte Version, weder des deutschen Originals noch in irgendeiner anderen Sprache“: „Die gesamte Forschung zum Nationalsozialismus kreist um ein schwarzes Loch.“

Forschung dank der neuen Edition?

Dieses „Loch“ ist seit einem Jahr gefüllt, und wie. Die Mehrzahl der eilig erworbenen Editionsbände dürfte in bildungsbürgerlichen Haushalten ihren Platz gefunden haben, und das, ohne ihre Käufer ins ultrarechte Lager getrieben zu haben. Eine andere Frage ist, inwieweit die historische Forschung durch die Edition des IfZ angeregt worden ist. Schließlich haben sich Historiker seit jeher der Quellen bedient, und wohl kein seriöses Buch zu Hitler ist je erschienen, ohne dass der Verfasser dessen Machwerk in die Hand genommen hätte. Kritiker der IfZ-Edition wie der Freiburger Neuzeit-Historiker Ulrich Herbert allerdings mokieren sich insbesondere über die als „schief“ verdammten Anmerkungen.

Die haben regelrecht Berühmtheit erlangt. Rund 3700 sind es, wobei jede einzelne Anmerkung eine Art Kurzbeitrag darstellt, der wiederum mit Literaturverweisen belegt ist. Allein schon die 76-seitige Einleitung weist 469 Anmerkungen auf. Darüber ist hinlänglich geschrieben und teils auch gespottet worden; im Allgemeinen dürfte aber der Respekt nicht allein vor der editorischen Leistung – angesichts eines Textes, von dem sich bis auf wenige Blätter kein Manuskript erhalten hat! – in den Vordergrund gerückt sein, sondern auch vor der Haltung, die in der Edition so ausgedrückt wird: „Der Respekt vor denen, die der hier ausformulierten Ideologie zum Opfer fielen.“

Die Pseudo-Ausgaben benötigt niemand mehr

Die unreflektierte Heranziehung der alten Ausgaben von „Mein Kampf“ hat sich mit der IfZ-Edition zum Glück erübrigt. Hitlers Buch ist in seiner Entstehung wie in seinen demagogischen Verdrehungen fassbar geworden. Bereits vor der Edition zusammengetragen, aber erst parallel mit ihr erschienen sind zwei Textsammlungen des Editionsmitherausgebers Othmar Plöckinger, dessen grundlegende Schrift „Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers ,Mein Kampf‘“ seit 2011 in einer aktualisierten Ausgabe vorliegt. Plöckinger hat unterdessen „Quellen und Dokumente zur Geschichte von ,Mein Kampf‘ 1924–1945“ zusammengetragen, denen zusätzliche „Schlüsseldokumente zur internationalen Rezeption von ,Mein Kampf‘“ gesondert folgten.

Mit den 171 Dokumenten des Sammelbandes entsteht ein plastisches Bild, weniger – aufgrund der beschränkten Quellenlage – der näheren Umstände der Abfassung des Buches als vor allem der Rezeption. Rezensionen des Hitler-Werks sind naheliegenderweise zahlreich im Jahr seines Erscheinens 1925, manche Blätter kleckern hinterher; erst wieder um 1930 gibt es nochmals gelegentliche Reaktionen. Unter denen gleich nach Erscheinen sticht diejenige in der renommierten „Frankfurter Zeitung“ vom 11. November 1925 heraus. „Mit ihrer Ausrichtung war die Frankfurter Zeitung“ – so der Herausgeber in der Vorbemerkung, die er hier wie bei allen Dokumenten voranstellt – „neben dem Berliner Tageblatt ein zentrales Angriffsobjekt für alle Nationalisten und Antisemiten.“ Indessen „nach dem Prozess gegen Hitler beschäftigte sich die Frankfurter Zeitung bis 1930 nicht mehr mit ihm. Die Besprechung seines Buches stellte eine Ausnahme dar.“

Hitlers "Realschulnationalismus"

Präzise arbeitet der anonyme Autor der „FZ“ den „kleinbürgerlichen Realschulnationalismus“ Hitlers heraus, dem zur Überbrückung seiner gedanklichen Widersprüche der „antisemitische Radikalismus“ zu Hilfe kommt. In München konnte er „beinahe die Gespenstervögel des Bürgerkrieges über Deutschland jagen“: „Die vielen Deutschen, die damals selbst aus Bürgerlichkeit und nationalistischem Rausch in die proletarische Armut stürzten, glaubten, dass ihnen ein Führer zu neuem Glück erstanden sei.“

So weit, so richtig; doch dann kommt der Irrtum der mittzwanziger Jahre, die eine zaghafte Normalisierung vorgaukelten: „Inzwischen haben aber die konstruktiven Politiker über die Geister des Chaos den Sieg davongetragen. Inzwischen haben sie Deutschland wieder aufgebaut und sind daran, Europa zu sichern. (…) Die Zeit ist weitergeschritten; Hitler aber ist – vollends nach diesem Selbstbekenntnis – erledigt.“

Der große Irrtum der Weimarer Republik

„Erledigt“ – das ist, Ende 1925, der große Irrtum des liberalen Bürgertums, der nach 1932 nicht mehr zu korrigieren war. Das „Berliner Tageblatt“, die andere entschiedene Stimme der Weimarer Demokratie, begnügte sich statt einer Rezension mit einer spöttischen Zusammenstellung von Zitaten einer Besprechung aus dem rechten Spektrum, um zu zeigen, „dass zwischen den einzelnen völkischen Lagern eine, die Objektivität sehr erleichternde Konkurrenzfehde besteht“. Solche Konkurrenz verstand Hitler ganz zu seinen Gunsten zu beseitigen.

Nach dem 30. Januar 1933 musste sich das Ausland auf ein gänzlich verändertes Deutsches Reich einstellen. In dieser Hinsicht von besonderem Interesse ist die Rezeption in der Sowjetunion. Als sensationell darf die Veröffentlichung der ausführlichen Analyse von „Mein Kampf“ gelten, die Plöckinger im Russischen Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte in Moskau lokalisieren konnte.

Der Komintern-Vorsitzende las "Mein Kampf"

Sie stammt von keinem Geringeren als Grigorij Sinowjew, dem zeitweiligen Vorsitzenden der Komintern und anfänglichen Mitkämpfer, dann jedoch entschiedenen Gegner von Stalin. Sinowjew sprach hervorragend Deutsch; politisch bereits kaltgestellt, erstellte er 1932/33, als er sich um Rehabilitierung bemühte, eine russische Übersetzung von „Mein Kampf“, die in höchsten Parteikreisen zirkulierte. Zudem fasste er seine Einschätzung des Hitler-Buches unter dem Titel „Die Bibel der deutschen Faschisten“ in einem Text zusammen, der jedoch unabgeschlossen blieb und nur in Einzelblättern und Notizen im Moskauer Archiv überliefert ist.

Als zentralen Teil von „Mein Kampf“ identifiziert Sinowjew die außenpolitischen Vorstellungen Hitlers. In aller Deutlichkeit sieht er die künftige Politik gegenüber der Sowjetunion voraus: „1) Das Hauptziel der auswärtigen Politik Deutschlands darf nicht in der Eroberung entfernter Kolonien, sondern in der Eroberung neuen Bodens in Europa bestehen. 2) Diesen Boden kann man nur ,finden‘ in Osteuropa, nur in Russland. (...) 9) Für das faschistische Deutschland ist es zuallererst notwendig, sich um jeden Preis zu bewaffnen, unter Ausnutzung jeder Gelegenheit.“

Stalin, der Besserwisser

Gegenüber dieser Hellsichtigkeit fällt auf, dass Sinowjew, selbst jüdischer Herkunft, den Antisemitismus Hitlers nur im Zusammenhang mit Japan hervorhebt, denn Japan sei „der einzige Staat, auf den sich die Vorherrschaft des Judentums nicht erstreckt“. Die Warnungen Sinowjews hat Stalin, wie man weiß, in den Wind geschlagen; unklar bleibt, inwiefern Stalin Sinowjews Text überhaupt gelesen hat. Jedenfalls ließ der rachsüchtige Diktator Sinowjew 1936 im ersten großen Schauprozess zum Tode verurteilen und hinrichten.

Grundverschieden ist das zweite Dokument, das Plöckinger aparterweise in denselben Band aufgenommen hat: eine Analyse des Jesuiten Johann Baptist Rabeneck, die dem Vatikan und Papst Pius XI. auf dessen Anforderung hin im Frühjahr 1935 zur Beurteilung des NS-Regimes vorgelegt wurde. Im Mittelpunkt steht hier die Rassenlehre, die auf das Genaueste dargestellt und aus katholischer Sicht ebenso zurückgewiesen wird wie der Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates.

Auch ohne Hitlers Kampfschrift Nazi

Die vorgestellten Publikationen ergänzen und vervollständigen die Hitler-Edition des Instituts für Zeitgeschichte. Auf ihrer Grundlage wird die historische Forschung weitere Erkenntnisse zeitigen. Wenn schon die Lektüre von „Mein Kampf“ heute nicht mehr als gefährlich gelten muss, wie verhält es sich dann aber mit der Lektüre zu des Buches eigener, damaliger Zeit? Aufschlussreich ist ein Hinweis im zweiten Band der IfZ-Edition. „Wie oft Hitlers Buch damals tatsächlich gelesen wurde, ist umstritten und lässt sich nicht abschließend klären“, heißt es auf Seite 1759 nüchtern. Als „deutlich aussagekräftiger als alle bisherigen Schätzungen“ werden zwei unveröffentlichte Untersuchungen der US-Army in der amerikanischen Besatzungszone von 1946 und 1947 zitiert: „Der Anteil der Leser belief sich demzufolge auf 7% bzw. 5%, während 16% bzw. 14% Mein Kampf teilweise, 77% bzw. 81% jedoch nicht gelesen hatten“, wie die im IfZ-Archiv bewahrten Dokumente besagen.

Man brauchte also Hitlers in 12,5 Millionen Exemplaren verbreitete „Kampfschrift“ nicht zu lesen, um Nazi zu werden. Umgekehrt gilt, dass der Nazismus auch ohne schriftliches Fundament seine furchtbare Wirkung entfalten konnte.

Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München- Berlin. Selbstverlag, München 2016. 2 Bände, zus. 1966 S., 59 €, www.ifz-muenchen.de

Othmar Plöckinger (Hg.): Quellen und Dokumente zur Geschichte von „Mein Kampf“ 1924–1945. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Band 28. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016. 695 S., 99 €

Othmar Plöckinger (Hg.): Schlüsseldokumente zur internationalen Rezeption von „Mein Kampf“. Beiträge z. Kommunikationsgeschichte, Band 29. Franz Steiner Verlag, Stuttg. 2016. 174 S., 44 €
Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. Oldenbourg Verlag, München 2011. 632 S., 74,95 €

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