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Kein Frieden an der Ostgrenze des Versailler Vertragsgebietes: Vom Ersten Weltkrieg in den nächsten Krieg

Stephan Lehnstaedt über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Osteuropa.

Wie lange dauerte der Erste Weltkrieg? Für den Westen Europas ist diese Frage beantwortet: gut vier Jahre, von Juli 1914 bis November 1918. Und im Osten Europas? Hier liegen die Dinge anders – eine Geschichte, die im Westen kaum präsent ist. Umso wertvoller erscheint das neue Buch von Stephan Lehnstaedt – die erste deutsche Untersuchung eines beinahe vergessenen Konflikts in Europa: des Polnisch-Sowjetischen Krieges der Jahre 1919 bis 1921.

Der frühere Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau und heutige Professor am Touro College Berlin bezeichnet ebenjenen Krieg als „Urkatastrophe des osteuropäischen 20. Jahrhunderts“. Denn an dessen Ende stand eine labile Friedensordnung, deren Spannungen selbst durch den Zweiten Weltkrieg nicht aufgelöst wurden. Und so zieht sich bis heute der Streit um historische Grenzen und nationale Minderheiten wie ein roter Faden durch die Geschichte Osteuropas. Gerade auch der gegenwärtige Konflikt in der und um die Ukraine ist in diesem Kontext zu sehen.

Polens Wiedergeburt

Am Anfang der Geschichte, die Lehnstaedt schildert, stehen der endgültige Zusammenbruch des russischen Zarenreiches durch die Oktoberrevolution 1917 und die Wiedergeburt Polens im November 1918 durch das Ende des Ersten Weltkrieges und die Niederlage der Mittelmächte Deutsches Reich und Österreich-Ungarn. Neben Polen bildeten sich auf bisher zaristischem Gebiet sechs weitere Staaten: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland und die Ukraine. Unter ihnen erwies sich Polen rasch als außenpolitisch handlungsfähig. Lehnstaedt führt dies auf eine von erfahrenen Offizieren organisierte Armee und ein Staatswesen zurück, das unmittelbar aus den von den Mittelmächten vor 1918 errichteten Strukturen hervorging.

In Warschau setzte sich Józef Pilsudski politisch durch. Der polnische Regentschaftsrat übertrug ihm nicht nur den Oberbefehl über die Armee, sondern auch die Führung des Staates. Pilsudskis Mission: Polen sollte als Land zwischen Ostsee und Schwarzem Meer wiedererstehen und an die als glorreich wahrgenommene Geschichte der Rzeczpospolita des 17. Jahrhunderts anknüpfen. Lehnstaedt erinnert daran, dass diese in der Frühen Neuzeit der größte Staat Europas gewesen war, bis ihn Preußen, Russland und Österreich in drei Etappen 1772, 1793 und 1795 unter sich aufteilten.

Neue Chancen, neuer Konflikt

Pilsudski schwärmte von Polens Herrlichkeit längst vergangener Zeiten. Der spätere Marschall der Zweiten Polnischen Republik träumte von Wilna und Lemberg, von Minsk und Kiew – Krieg zwischen Polen, Litauen, der Ukraine und den russischen Bolschewiki war die Folge. Hier kämpften nach Lehnstaedts Urteil keine Besiegten, sondern Kriegsgewinner gegeneinander: Der Untergang der Monarchien der Habsburger, der Romanows und der Hohenzollern ermöglichte ihre neu erstandenen Nationen und politischen Projekte. Und so endete der Erste Weltkrieg im Osten nicht 1918, sondern erst 1921.

Überaus anschaulich beschreibt Lehnstaedt diesen fortgesetzten Krieg: Die Ukraine verlor ihre junge Staatlichkeit 1919 direkt wieder. Polnische Truppen zogen in Minsk, Wilna und Lemberg ein. 1920 war von einem Bewegungskrieg an einer über tausend Kilometer langen Front geprägt. Polens Armee eroberte Kiew. Um das Vaterland zu verteidigen, verbündeten sich nun temporär konterrevolutionäre, „weiße“ Einheiten mit den Bolschewiki.

Das "Wunder an der Weichsel"

Gemeinsam ging man erfolgreich zum Gegenangriff über: Die Rote Armee trieb ihren polnischen Gegner in lediglich acht Wochen 500 Kilometer nach Westen. Lehnstaedt bezeichnet diese Kämpfe als die letzten glorreichen Tage der Kavallerie und zugleich als die ersten Vorboten des modernen Bewegungskrieges.

Nun war es plötzlich Warschau, das sich direkt bedroht sah. Doch es wurde durch das „Wunder an der Weichsel“ im August 1920 gerettet: Vor den Toren der Stadt schlug Pilsudski die Rote Armee durch ein riskantes Zangenmanöver – mit, so Lehnstaedt, weitreichenden Konsequenzen. Denn bis dahin hatte ein Weitertragen des Bolschewismus bis nach Deutschland als vorstellbar gegolten. Doch nun war der sowjetische Traum von der Weltrevolution ausgeträumt. Der expansionistische Kriegskommunismus war am Ende. An seine Stelle trat Stalins nach innen gerichtetes Konzept vom „Sozialismus in einem Land“.

Der Frieden von Riga

Am 18. März 1921 schlossen Polen und Sowjetrussland Frieden im neutralen Riga. Das Ergebnis ihres Krieges war ein gemischtes – für beide Seiten. Lehnstaedt fasst es prägnant zusammen: kein Sieg für Polen, aber auch keine Niederlage. Viel weniger Landgewinn als von polnischer Seite erhofft, aber auch keine neue kommunistische Republik im Osten Europas. Dafür stand Warschau nun allein gegen die 1922 gegründete Sowjetunion. Denn die Ukraine hatte aufgehört, als eigenständiger Staat zu existieren. Auch Weißrussland war sowjetisch.

Und für die weitere Geschichte Polens noch viel dramatischer: In Moskau sannen die Bolschewiki auf Rache, vor allem Stalin, der für die Niederlage vor Warschau verantwortlich gemacht wurde. In seinem Pakt mit Hitler 1939 sicherte er sich dann denjenigen Teil Polens, den die Sowjets in Riga 1921 hatten abtreten müssen.

Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919–1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa. Verlag C. H. Beck, München 2019. 221 S. mit 11 Abb. und 2 Karten, 14,95 €.

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