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Literatur: Treppenwitze

Thomas Hürlimann springt in seinen Papierkorb

Woran er gerade arbeite, wird der Autor gefragt. Er seufzt, die Frage erwischt ihn in einem melancholischen Augenblick: „Ach, wieder einmal springe ich mit viel Anlauf in den Papierkorb.“ Thomas Hürlimanns Papierkorb muss ein erstaunliches Behältnis sein, denn er findet wahre Schätze darin: kleine, funkelnde Geschichten, die vom „Lesen“ und „Schreiben“ erzählen, vom Theater und der pädagogischen Provinz; vom Autor und seinem Werk.

Für den Band „Der Sprung in den Papierkorb“ hat Hürlimann verstreute Texte aus den letzten Jahren überarbeitet, erweitert und in das Ganze einen roten Faden eingezogen, eine zweite, erklärende Textspalte, die von einem zentralen Bild seines Schreibens erzählt: der Treppe. Ihre Urform stand in Platons Höhle. Sie führte aus der Schattenwelt in das helle Sonnenlicht hinauf, und die Höhlenbewohner überlegten sich dreimal, ob sie den riskanten Aufstieg ins Ungewisse der Erkenntnis wagen sollten.

Diese Frage stellt sich auch dem Schriftsteller täglich, der sich im Laufe seines Arbeitstages zwischen Routine und tollkühnem Risiko hin- und herbewegt: „Das schaffe ich nie“. Hürlimanns Leser wissen, dass aus diesen zermürbenden Zweifeln sorgfältig gearbeitete, zartfühlende, schonungslose Erzählungen und Romane entstanden, geschrieben im Geiste von Jean Paul. Sie wagen sich an die großen Themen und zerlegen sie entschlossen in ihre Einzelteile, bis dem Leser der Kopf schwirrt und der Autor mit festem Griff die Erzählschraube anzieht. Dann stehen wir plötzlich mit ihm auf dem Gipfel und haben einen märchenhaften Ausblick.

Von solchen Aufstiegen und manchen Abstürzen handeln Hürlimanns „Geschichten, Gedanken und Notizen am Rande“, in denen jede Pointe sitzt – und davon gibt es viele. Es soll hier nicht verraten werden, was Marie, die Hauptfigur aus „Vierzig Rosen“, mit Scheherezade verbindet; oder warum die Education littéraire eines jungen Klosterzöglings, den wir aus der Novelle „Fräulein Stark“ kennen, mit einem zerknüllten Papierchen und einer himmelschreienden Ungerechtigkeit beginnt. Erstaunlich ist, dass Hürlimann Botho Strauß zum wichtigsten Autor seiner Generation erklärt, seine Stücke zu radikalen Studien über Einsamkeit. Es müssen Strauß’ „reaktionäre Rebellen“ sein, die ihn berühren und an Wilhelm Tell erinnern, weil sie, sehr schweizerisch, im entscheidenden Moment nicht nach Motiven suchen, sondern pathetisch ihrem Starrsinn vertrauen.

Da hilft nur der Treppenaufstieg, der aber schwieriger ist denn je. In der letzen Geschichte stürzt der Erzähler in einer Situation, die Freud exemplarisch genannt hätte, eine abwärtslaufende Rolltreppe hinab, trotzdem er durch rasendes Aufwärtskrabbeln versucht, den Stahlzähnen am Ende zu entkommen. Eine subtile, böse und tief menschliche Geschichte.

Thomas Hürlimann: Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rande.

Ammann Verlag, Zürich 2008.

140 Seiten, 17,90 €.

Nicole Henneberg

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