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Tag für Tag im August 1939: Wachsende Anspannung

Hauke Friederichs erstellt eine Chronologie der letzten Wochen vor dem Einmarsch in Polen.

Am Abend des 21. August 1939 trifft auf dem Obersalzberg, Hitlers Privatresidenz in den Alpen, ein Geheimtelegramm ein. Es stammt von Stalin, der seine Zustimmung zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mitteilt und von einem „Wendepunkt für eine ernsthafte Verbesserung zwischen unseren Ländern“ spricht. Hitler ist entzückt, er schlägt sich vor Freude aufs Knie, lässt Champagner servieren, trinkt aber selber nichts. Der Vertrag, dessen Zustandekommen kurz vor Mitternacht im deutschen Rundfunk verkündet wird, ist tatsächlich ein Wendepunkt. Die ideologischen Todfeinde spielen Versöhnung, in einem geheimen Zusatzprotokoll teilen sie Polen untereinander auf.

Der fingierte Angriff

Ein „Schweinepakt“ der Diktatoren sei das, urteilt Erika Mann. Und während das britische Unterhaus zu einer Sondersitzung zusammengerufen wird, hat Reinhard Heydrich bereits mit seinen SS-Leuten die Vorbereitungen zu dem Zwischenfall vorangetrieben, der den deutschen Überfall kaschieren soll. 300 Männer, die Hälfte davon in polnischen Uniformen, sollen beim Angriff auf den Sender Gleiwitz eingesetzt werden. Benötigt werden echte Leichen, um das Propagandamärchen von polnischen Tätern glaubwürdig zu machen. Dafür will man auf ein Dutzend Häftlinge des KZ Sachsenhausen zurückgreifen. Im Gestapo-Jargon werden sie „Konserven“ genannt.

Der "Große Brand" kam zwangsläufig

Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939. 80 Jahre danach zeichnet Hauke Friederichs in seinem Buch „Funkenflug“ den Weg dahin in einer Tag-für-Tag-Erzählung nach, die am 1. August einsetzt – ein Countdown in die Katastrophe. Das Muster dazu stammt von Florian Illies, der in seinem Bestseller „1913“ den letzten Sommer vor dem Ersten Weltkrieg in Anekdoten wiederauferstehen ließ, bevölkert vorwiegend von Schriftstellern und Künstlern. Allerdings fehlt dem „Funkenflug“ jeder Anschein von Zufall. Der große Brand war beim Zweiten Weltkrieg, anders als beim Ersten, geplant, es kam zwangsläufig zu ihm. Hitler hat den Krieg gewollt, schon in „Mein Kampf“ hatte er seine Idee vom „Lebensraum im Osten“ dargelegt. Widerspruch musste er nicht fürchten. Ulrich von Hassell, der später zu den Widerstandskämpfern des 20. Juli gehörte, hielt den Augenblick „unmittelbar vor oder bei Kriegsausbruch“ für ideal, um einen Staatsstreich zu wagen. Doch in der Generalität, die auf Revanche für 1918 hoffte, waren solche Gedanken tabu.

Baden in der Ostsee

Der Sommer 1939 ist prachtvoll, auch die Danziger amüsieren sich zu Tausenden in Seebädern wie dem eleganten Zoppot. Dabei war Danzig, nach dem Versailler Vertrag vom Reichsgebiet abgetrennt und als Freie Stadt unter den Schutz des Völkerbundes gestellt, der Punkt, an dem die Krise eskalierte. Die Nationalsozialisten forderten die Rückgabe und den Bau einer exterritorialen Autobahn durch den „ polnischen Korridor“ nach Ostpreußen. Als Polen ablehnte, ließ Goebbels die Propagandamaschinerie heiß laufen.

Friederichs zitiert Zeitungsschlagzeilen wie „Deutsche in polnischen Gefängnissen mit Ketten geschlagen“ oder „Hass und Rohheit nehmen in Polen kein Ende“. Der Waffenschmuggel nach Danzig floriert, SS-Männer formieren sich zur Heimwehr, das Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ macht sich mit 4219 scharfgemachten Granaten auf den Weg. Hitler hofft, dass sich die Westmächte aus dem Konflikt heraushalten und ihm dabei zusehen, wie er Polen zerschlägt, so wie ein Jahr zuvor bei der Tschechoslowakei geschehen. Eine Illusion.

Das Panorama, ein Wimmelbild

Es ist ein großes Panorama, das der Journalist und Historiker Friederichs zusammengetragen hat; manchmal gleicht es einem Wimmelbild. Große und kleine Leute treten auf, das Buch begleitet sie durch den Monat der wachsenden Anspannung. Thomas Mann fröstelt in Holland, er hat für seinen Urlaub die einzige Gegend Europas ausgesucht, in der es kühl ist. Sophie Scholl besucht Worpswede. Einstein schreibt einen Brief an US-Präsident Roosevelt, in dem er vor der deutschen Kernforschung warnt. Georg Elser lässt sich im Münchener Bürgerbräukeller einschließen und höhlt einen Pfeiler aus, in dem er die Bombe verstecken will, die Hitler töten soll. William Shirer, Korrespondent des US-Radiosenders CBS, schließt aus Meldungen über Stahlmangel, dass Deutschland für den Krieg rüstet. Reichstrainer Sepp Herberger ruft seine Nationalspieler für ein Fußballspiel gegen Schweden zusammen, das nicht stattfinden wird. Abgesagt wird auch der „Parteitag des Friedens“, der pompös in Nürnberg gefeiert werden sollte.

Immer hektischer die Politik

Friederichs erzählt durchgehend im Präsens, der Leser soll das Gefühl bekommen, quasi live der Weltgeschichte beizuwohnen. Mitunter wirkt die Und-dann- Dramaturgie ermüdend, zumal die Übergänge mit Sätzen wie „Auf dem Berghof klappert der Fernschreiber“ nicht immer elegant formuliert sind. Je näher der Krieg rückt, desto mehr konzentriert sich das Buch auf das „Politikspiel“ der (Geheim-)Diplomatie. Der italienische Außenminister Ciano fordert Mussolini auf, mit Hitler zu brechen. Göring verhandelt über einen schwedischen Vertrauten mit England. Hitler gibt der Wehrmacht den Befehl, Polen am 26. August anzugreifen. Als der Aufmarsch bereits weit fortgeschritten ist, widerruft er aus Angst vor einem britischen Kriegseintritt seine Entscheidung. Einige Offiziere spotten bereits über den Wankelmut des Oberbefehlshabers.

Hauke Friederichs: Funkenflug. August 1939: Der Sommer, bevor der Krieg begann. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 376 S. m. 14 Abb., 24 €.

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