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© Breuel-Bild/McMatzen

Politische Literatur: Helmut Schmidt und Fritz Stern durchpflügen ihr Jahrhundert

In achtzig Tagen reiste Jules Verne um die Welt. Helmut Schmidt und Fritz Stern schafften ein ganzes Jahrhundert in drei Tagen - locker, aktuell und mit einem beneidenswert weiten Horizont.

Das Buch hat sich bereits an der Spitze der „Spiegel“-Bestenliste festgesetzt, und wo immer die beiden Autoren es vorstellen, sind die Säle bis zum letzten Platz gefüllt. Mithin konfrontiert uns das Gesprächsbuch von Helmut Schmidt und Fritz Stern – bevor man es aufgeschlagen hat – mit einem erstaunlichen Phänomen: dass zwei alte Männer, 92 Jahre der Altbundeskanzler, 86 Jahre der Historiker, massenhaft die interessierten Deutschen auf die Beine bringen. Steckt darin das Bedürfnis, sich aus einer unübersichtlich gewordenen, an beispielgebenden Gestalten armen Gegenwart an das rettende Ufer von Altersweisheit und gelungener Existenz zu retten? Oder geht es einfach um das Vergnügen, an einem Schatz von Erfahrungen und Gedanken teilzuhaben?

In achtzig Tagen reiste Jules Verne um die Welt, in drei Tagen durchpflügten Helmut Schmidt und Fritz Stern ein Jahrhundert, ihr Jahrhundert. Die beiden Herren tun das locker, im ping-pong-haften Wortwechsel ihrer Gedanken und Eindrücke, immer auf der Höhe der aktuellen Diskussionen, aber mit einem beneidenswert weiten Horizont, ein Schuss Proseminar und eine Prise Name-Dropping nicht zu vergessen. Von gestern mag nur ihre Überzeugung von der Geschichte als Lebensmacht sein. Weshalb das Gespräch sich – um seine Bandbreite ungefähr zu umreißen – zwischen Bismarck und Gorbatschow, der Demokratie des Perikles und dem Aufstieg Chinas bewegt.

Obwohl beide politisch ziemlich auf der gleichen Wellenlänge liegen, wird das Gespräch nie eintönig. Das macht, dass sie auch vor Untiefen nicht zurückscheuen – etwa dem Problem der Kritik an der Politik Israels oder der Macht der Political Correctness in Amerika. Andererseits geben sie auch gängigen Themen mit einer Mischung aus klugem Urteil und der Lust am Anekdotischen eine Form, die so unterhält wie belehrt. Nirgendwo wird bei diesem Gipfelgespräch die Luft dünn. Vielmehr beeindruckt es durch Wachheit und Offenheit.

Natürlich bleibt die deutsche Katastrophe, die Stern in die Emigration trieb und Schmidt in den Zweiten Weltkrieg, das große Trauma, der heimliche Kontrapunkt des Disputs. Sie umkreisen diesen Geschichts-Krater, loten ihn aus mit ihren Erfahrungen und Erkenntnissen – und enden doch bei seiner Unfassbarkeit. Allerdings: An der Frage, was die Deutschen gewusst haben, scheiden sich die Geister – dass Schmidt keine Ahnung von Dachau hatte, nimmt Stern „einfach wunder“. Ein Urteil zum Freundschaftspreis.

Im Übrigen ist Schmidt ganz das Staatsmann-Monument, zu dem er in seinem älteren Jahre für die Deutschen geworden ist: schroffe Distanz gegenüber einem moralisch-pädagogischem Begriff von Politik, streng mit dem eigenen Volk, das in einem höheren Maß verführbar bleibe als andere, gerne auch einmal drastisch – Ludendorff bekommt das Verdikt „Scheißkerl“ ab, die FDP eine Ladung - „wie heißt er noch, Westerwelle“ – seiner bekannten Abneigung. Überhaupt verteilt er Lob und Tadel freimütig wie eh und je, und es verschlägt gegenüber diesem streitbaren Temperament nichts, dass er dabei auch einmal die sozialliberale Koalition eine Forschungsstelle beim Gesamtdeutschen Ministerium begründen lässt, die die Regierung Brandt damals gerade auf Eis gelegt hatte, nachdem sie das Haus innerdeutsch umbenannte.

Dagegen ist Stern, der Intellektuelle, der beweglichere und ausgleichende Kopf. Oft lässt er gelten, was Schmidt attackiert. Es hat seine ironische Dimension, dass der Historiker, der seinen Rang der Kritik des deutschen Irrationalismus verdankt, gegen Schmidt, den Lehrerssohn – „Helmut, das kann man so nicht stehen lassen“ – die Bildungswelt des deutschen Oberstudienrats verteidigt. Auch mit der alten Sozialdemokratie geht der amerikanische Professor geduldiger um als Schmidt. Denn der „eingetragene Sozi seit über sechzig Jahren“ trägt ihr hartnäckig nach, zu lange am Marxismus festgehalten zu haben.

Von betroffen machender Eindringlichkeit sind die Fundstücke am Wege. Etwa Fritz Sterns Anmerkung, dass er, Sohn der deutschen Bildungsschicht, bis 1933 nicht wusste, dass er Jude sei. Oder Schmidts Eröffnung, dass er in der Weimarer Republik in seiner Schule – einer eher linken Reformschule – nie das Wort Demokratie gehört habe; aber man lernte, selbstständig zu arbeiten und zu urteilen. Außerdem bringt das Gespräch die Behauptung zur Strecke – Versatzstück jedes zweiten Schmidt-Porträts –,sein Sozialismus stamme aus dem Offizierscasino: In seinen acht Soldatenjahren habe er „kein einziges Mal ein Offizierscasino erlebt“.

Dieses Gesprächsbuch wahrt ganz den Charakter eines lebendigen Austauschs. Die drei Tage im Juni 2009, an denen er in Schmidts Haus in Hamburg stattgefunden hat, sind denn auch mitten ins Leben gestellt, man geht zum Luftschnappen in den Garten, Schmidt muss den Arzt konsultieren wegen eines Klitschauges – was immer das sein mag. Solche Spontaneität kommt nicht von selbst. Vermutlich hat deshalb Thomas Karlauf, der Redakteur des Buches, ein nicht geringes Verdienst daran, dass das Gespräch nicht nur gut lesbar ist, sondern tatsächlich für den Leser – wie für die Autoren selbst, nach ihrem Bekenntnis – eine Bereicherung.

– Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. Verlag C.H. Beck, München 2010. 288 Seiten, 21,95 Euro.

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