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 Im Revolutionsjahr 1848 schuf Frédéric Sorrieu die Lithografie „Die allumfassende demokratische und soziale Republik“.

© La documentation francaise

Erinnerung und Erinnerungsorte Europas: Der Kontinent in hundert Stücken

Die Historiker Étienne François und Thomas Serrier rufen Europa als großes Panorama auf.

Ach Europa, seufzte Hans Magnus Enzensberger schon vor gut dreißig Jahren bei seiner legendären Tour d’horizon durch die alte immerneue Welt. Seufzte, spottete, sinnierte sein europäisches Ach allerdings mit einem Ausrufezeichen. Ein Kleinlaut mit großer Geschichte. Auch das eher nur gehauchte „ach“ bei Heinrich von Kleist, auf das meist eine Ohnmacht der dramatischen Heldin folgt, spielt beim preußischen Dichter auf das hélas der klassischen französischen Tragödie an: jenen zarten Ausdruck tiefer, gleichfalls meist weiblicher Melancholie.

Kleist, der eine deutsch-französische Symbiose und Antithese in seinem so zerbrochenen Herzen und kurzen Leben wie kaum ein anderer verkörpert hat, er taucht, wenn ich das auf den 1534 Seiten des dreibändigen französisch-deutschen Kompendiums „Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ nicht übersehen habe, an keiner Stelle auf. Aber das betrifft natürlich viele und vieles – und ohne den gewaltigen Mut zur noch gewaltigeren Lücke ist ein solches Kontinental-Panorama gar nicht möglich. Darum streuen die beiden Historiker Étienne François und Thomas Serrier sowie ihre fünf Subeditoren und die über hundert mit Einzelbeiträgen präsenten Autoren immer mal wieder Hinweise auf notwendige Auslassungen ein. Sie fragen, wenn zum Beispiel Shakespeare weniger als englischer Barde denn als europäisch-transnationaler (und universeller) Kopf begriffen wird: Warum er und nicht auch Dante? Das ist dann ein Spiel mit Gedanken und Geschichte(n), das sich schier endlos fortsetzen ließe.

Das Fundament Europas

Schauen wir zunächst lieber auf die Fülle in solcher Hülle. Ursprünglich ist dieses in alle Sphären der politischen, kulturellen und sozialen Geschichte des Kontinents ausgreifende Kompendium 2017 in Frankreich erschienen. „Europa. Notre histoire“, hieß es damals, mit dem Zusatz „L’héritage européen depuis Homer“. Gemeint war also das europäische Erbe seit Homer. Für die nunmehrige deutsche Ausgabe gab es leichte Veränderungen und Aktualisierungen (etwa mit Erwähnung des Brexit), dazu neue oder modifizierte Vor- und Nachworte – und im Untertitel den verstärkten Nachdruck auf die „Gegenwart“ europäischer Geschichte. Angesichts der Fliehkräfte allein schon in der EU, die ihrerseits nur einen Teil des Kontinents ausmacht, soll es um die „Fundamente europäischer Identität“ gehen.

Hierfür bieten die so gebildeten wie reich vernetzten Herausgeber eine Heerschar illustrer Beiträger auf. Der amerikanische Historiker Jay Winter beleuchtet den Ersten Weltkrieg einmal mehr als „Europas Selbstmord“, während Étienne François und Thomas Serrier davor schon Europas Überleben im „Schatten des Zweiten Weltkriegs“ beschworen haben. Europa, das steht am Beginn des ersten Bandes, ist ja buchstäblich, weil schon seit Homers „Ilias“, ein „Kontinent des Krieges“, der seit 1945 teils hymnisch-hoffnungsvoll, teils ohnmächtig-verzweifelt (während des selbstmörderischen Zerfalls Jugoslawiens) eine „Pax europeana“ sucht.

Merkel oder Hollande?

Interessant hierbei ein Detail: François/Serrier weisen mit deutlicher Sympathie für die deutsche Kanzlerin auf die vergleichsweise martialische Rhetorik Präsident Hollandes nach den islamistischen Attentaten von Paris 2015 und Merkels besonnen empathische Reaktion auf den Anschlag am Berliner Breitscheidplatz ein Jahr später hin. Weitere Stichworte zum historischen Hintergrund sind über die drei Bände verteilt: Napoleons fortlebender Mythos, der Spanische Bürgerkrieg, der Hitler-Stalin-Pakt, „Das Europa der Völkermorde“, „Die Demokratie weit von Athen“ (Gesine Schwan) oder „Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte“ (Arnold Esch), „Die drei Strahlen: Jerusalem, Athen und Rom“, der „Islam – dasselbe und das andere in Europa“ (John Tolan), „Die Spur der Frauen – ein Anhängsel der Geschichte“ (Marie-Claire Hoock-Demarle), „Die Aura des Bildes“ (Horst Bredekamp) oder „Der Kaufmann und der Intellektuelle: Marco Polo und Matteo Ricci“ (Marina Münkler).

Natürlich birgt so viel Bildungsreigen mancherlei Überraschendes, partiell Erhellendes. Vom Berliner Literaturwissenschaftler Jürgen Trabant lernen wir unter der Überschrift „Babel oder das Paradies“ ganz nebenbei,dass „Maltesisch die einzige semitische Sprache Europas“ ist, trotz des starken italienischen Einflusses. Und in Ana Lucia Araujos Aufsatz über die von Europa über Afrika und hinaus nach Amerika verbreiteten „Gespenster der Sklaverei“ erfährt man, wo sich im Senegal, in Liverpool und in Lagos an der portugiesischen Algarve herausragende Museen zur Geschichte der Versklavung von Millionen Afrikanern durch die europäischen Kolonialmächte befinden.

Die Heldensagen von 1945

Letzteres berührt freilich auch einige exemplarische Schwachpunkte des ganzen Unternehmens. Wer die aktuelle Bedrohung der „europäischen Werte“ aus idealer Aufklärung und realer Leiderfahrung als Exempel der hier beschworenen „europäischen Gedächtniskultur“ skizzieren will, muss wohl mehr bieten als bemühte, jedoch gedanklich flache Kurzbeiträge zum europäischen Rassismus, vor allem zum wieder auflebenden Antisemitismus. Oder zu dem mit den üblichen Begriffen der Kolonialismuskritik nicht mehr fassbaren belgischen Horrorregime im Kongo des späten 19. Jahrhunderts – zumal ohne Hinweise auf neuere Versuche, in Brüssel die Standbilder König Leopolds II. mindestens museal-dokumentarisch durch das Fahndungsbild eines historischen Massenmörders zu ersetzen.

Einer der Beiträge sticht in diesem Kontext allerdings hervor. Es ist Herausgeber Étienne François’ eigener Essay über „Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte“. Hier werden einmal nicht nur Stichworte geliefert, vielmehr ein entschiedener Überblick zur Art und Weise, wie von Frankreich bis Ungarn, von Italien bis Polen die Dunkelzonen der eigenen Geschichte nach 1945 oft durch Heldensagen verbrämt, verdrängt, vergessen wurden.

Fehlstellen

Wie vergessen aber wirkt in dem ganzen Kompendium ein europäisches Kernland: Italien. Zwar gibt es Beiträge zu Leonardo oder auch zu Rom und Venedig, doch Florenz als Hauptstadt der Renaissance und Geburtsort der modernen europäischen Stadt-Republik bleibt unterbelichtet. Auch gerät die Rolle des italienischen Faschismus neben Hitler, Stalin, Franco merkwürdigerweise kaum ins Visier. Es fehlen überhaupt italienische Autoren, ob Calasso, Agamben oder der große Erzähler und Deuter Mitteleuropas Claudio Magris. Es gibt zu Recht einen Beitrag über die Krim, aber keinen über Europas denn doch aus vielen Gründen bedeutungsvollste Insel namens Sizilien.

Ein französischer Blick

Film und Musik und das dramatische Theater, diese mit Mythos und Aufklärung, mit Religion, Politik, Philosophie und Poesie verbundene und gegenüber allen anderen Weltkulturen wirklich einzigartige europäische Erfindung, bleiben gleichfalls ausgeblendet. Ebenso ein wirklich britischer Blick auf den „Kontinent“ (wie Europa urbritisch heißt). Das wäre vielleicht erhellender gewesen als einmal mehr die thematisch zwischen Kunst und Kitsch, Nostalgie und Tourismus changierende neuerliche Kurzgeschichte von „Montmartre und Montparnasse“ oder ein Beitrag mit der für alle Italiener, Japaner, Chinesen etwas steilen These, dass die Franzosen die Gastronomie, die Restaurants und letztlich die gute Küche (allein) erfunden hätten.

Da bleibt die Kirche dann sehr im französischen Dorf. Wie auch der Kirchturm von Marcel Prousts eigentlich erfundenem Combray hier an anderer (sehr schöner) Stelle zu einem Sinnbild der einst durch Glockentürme geprägten europäischen Städte wird. Solche Momente lassen nun ahnen, wo und wie sich Stichworte und Skizzen wenigstens thesenhaft zu dem allseits gesuchten „europäischen Narrativ“ hätten verbinden können.

Étienne François / Thomas Serrier (Hg.): Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte. A. d. Franz. von Jürgen Doll, Walter Fekl, Dieter Hornig. wbg Theiss, Darmstadt 2019. 3 Bde., 1534 S. mit 140 Abb., 129 €.

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